Winterträume
in den Wirren des Krieges und dann, im wilden Auf und Ab des letzten Vierteljahrs, so gut wie in Vergessenheit geraten, doch nun sah er sie plötzlich vor sich, gestochen scharf – ein reizendes Geschöpf, das herrlich selbstvergessen und ganz unbefangen plaudern konnte, und völlig unerwartet waren Hunderte Erinnerungen wieder da. Ediths Gesicht war es gewesen, das er all die Jahre auf dem College mit einer Art interesseloser und dennoch zärtlicher Bewunderung lieb und wert gehalten hatte. Er hatte sie unglaublich gern gezeichnet – überall in seinem Zimmer hatten Dutzende Skizzen von ihr gehangen – beim Golfspielen, beim Schwimmen – ihr keckes, faszinierendes Profil, buchstäblich mit geschlossenen Augen konnte er es zeichnen.
Um halb sechs verließen sie den Herrenausstatter und blieben noch ein paar Minuten draußen auf dem Trottoir stehen.
»So«, sagte Dean aufgeräumt, »jetzt hab ich alles, was ich brauche. Dann geh ich wohl mal ins Hotel zurück, rasieren und Haare schneiden, und danach lass ich mir noch eine Massage verpassen.«
»Gute Idee«, sagte der andere, »ich glaub, ich schließe mich dir an.«
Gordon fragte sich, ob er zu guter Letzt doch noch abgewimmelt werden sollte. Er brauchte seine ganze Kraft, um den Mann nicht einfach anzuschreien: »Verdammt noch mal, jetzt zischen Sie doch endlich ab!« In seiner Verzweiflung argwöhnte er, dass Dean dem Burschen was gesteckt hatte und ihn die ganze Zeit absichtlich mitschleppte, um einer Auseinandersetzung bezüglich des Geldes aus dem Weg zu gehen.
Und dann betraten sie das Biltmore, in dessen Halle es nunmehr von jungen Mädchen wimmelte, größtenteils von der Westküste und aus dem Süden – es war die crème de la crème der Debütantinnen aus vielen Städten, die hier versammelt war, um auf dem Ball einer altehrwürdigen Studentenverbindung einer altehrwürdigen Universität zu tanzen. Für Gordon aber waren das nur Traumgesichter. Er nahm all seine Kraft zusammen, um noch einen letzten verzweifelten Vorstoß zu wagen; er hatte keine Ahnung, wie anfangen, doch als er gerade loslegen wollte, entschuldigte sich Dean auf einmal bei dem anderen Mann, hakte Gordon unter und nahm ihn beiseite.
»Gordy«, sagte er rasch, »ich hab mir die ganze Sache gründlich überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dir das Geld nicht leihen kann. Ich wär dir wirklich gern gefällig, aber mein Gefühl rät mir, es nicht zu tun – ich wäre dadurch einen ganzen Monat lang in der Bredouille.«
Gordon war wie vor den Kopf geschlagen; er sah Dean an und wunderte sich darüber, dass ihm dessen vorstehende Zähne noch nie aufgefallen waren.
»Es tut mir wahnsinnig leid, Gordon«, fuhr dieser fort, »aber so sieht’s nun einmal aus.«
Er holte seine Brieftasche hervor und zählte sorgfältig einige Geldscheine ab – fünfundsiebzig Dollar.
»Hier«, sagte er und hielt sie Gordon hin, »hier hast du fünfundsiebzig, das macht dann achtzig insgesamt. Mehr Bargeld hab ich nicht bei mir, außer meiner Reisekasse.«
Gordon hob mechanisch die zur Faust geballte Hand, öffnete sie wie eine Zange, schnappte sich das Geld und schloss die Faust gleich wieder.
»Wir sehn uns nachher auf dem Ball«, sagte Dean. »Ich muss mich beeilen, dass ich’s noch zum Friseur schaffe.«
»Bis nachher«, sagte Gordon verkrampft und mit heiserer Stimme.
»Bis nachher.«
Dean verzog das Gesicht zu einem Lächeln, schien sich’s dann aber anders überlegt zu haben. Er nickte kurz und machte sich davon.
Gordon jedoch blieb wie angewurzelt stehen und hielt die Geldscheinrolle fest umklammert; sein hübsches Gesicht war schmerzverzerrt. Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen, und tapsig, wie ein Blinder, torkelte er die Eingangsstufen des Biltmore hinunter.
III
Am selben Abend, ungefähr gegen neun, kamen zwei Individuen aus einem billigen Restaurant auf der Sixth Avenue. Sie waren hässlich, unterernährt, bar jeglicher Intelligenz, oder allenfalls auf der untersten Stufe derselben, und noch nicht einmal im Besitz jener Ausgelassenheit, und sei es auch nur in ihrer animalischen Form, die von sich aus schon Farbe ins Leben bringt; von Ungeziefer waren sie letzthin befallen, verkühlt und ausgehungert, in einer schmutzigen Stadt in einem fremden Land; sie waren arm und ohne Freunde; herumgestoßen waren sie, wie Treibholz, seit dem Tag ihrer Geburt, und würden es auch bleiben, herumgestoßen wie Treibholz, bis zu ihrem Tod. Sie trugen die Uniform der
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