Winterträume
Avenue und dem Broadway. Dorthinein ging Key, um nach seinem Bruder George zu fragen, während Rose draußen vor dem Eingang wartete.
»Der arbeit’ nich mehr hia«, sagte Key, als er wieder herauskam. »Der is jetzt Kellner ohm im Delmonico.«
Rose nickte verständnisinnig, als hätte er mit so was schon gerechnet. Wen wundert es denn auch, wenn einer, der was auf dem Kasten hat, gelegentlich die Stellung wechselt? Er habe da mal einen Kellner gekannt… Und während sie nun weitergingen, entspann sich eine lange Diskussion darüber, ob Kellner ihren Lebensunterhalt eher von ihrem regulären Lohn bestreiten oder eher vom Trinkgeld, und am Ende waren sie sich einig, dass es ganz darauf ankomme, in was für ein Milieu der Laden einzuordnen sei, in dem ein Kellner arbeite. Und nachdem sie einander in den schillerndsten Farben all die Millionäre beschrieben hatten, die im Delmonico speisten und nach der ersten Flasche Champagner gewiss nur so mit Fünfzigdollarscheinen um sich warfen, dachten sie beide im Stillen darüber nach, ob sie nicht gleichfalls Kellner werden sollten. Ja, insgeheim formierte sich hinter Keys fliehender Stirn sogar der Entschluss, seinen Bruder zu fragen, ob er ihm nicht eine Anstellung besorgen könnte.
»Als Kellner kannste immer den ganzen Champagner aussaufen, der noch unten drin is, weil kriegen ihre Flaschen nämlich immer nich ganz leer, die Burschen«, sinnierte Rose genüsslich und schickte noch ein »Mein lieber Scholli!« hinterher.
Als sie am Delmonico ankamen, war es halb elf, und die zwei staunten nicht schlecht, als sie dort eine lange Schlange von Taxis vorfahren sahen und jedem eine wunderhübsche junge Dame ohne Hut entstieg, jeweils in Begleitung eines steifen jungen Herrn im Abendanzug.
»Das is ’ne geschlossne Gesellschaft«, sagte Rose einigermaßen ehrfürchtig. »Vielleicht gehn wir da lieber doch nich rein. Der hat bestümmt zu tun.«
»Ach was. Der würt schon Zeit ham.«
Nach kurzem Zögern betraten sie das Etablissement durch die in ihren Augen am wenigsten auffällige Tür und verzogen sich, augenblicklich von Unschlüssigkeit übermannt, nervös in den hintersten Winkel des kleinen Restaurants, in dem sie sich befanden. Sie nahmen ihre Mützen ab und behielten sie in der Hand. Es war, als senkte eine dunkle Wolke sich auf sie herab, doch plötzlich fuhren sie erschrocken hoch, denn vis-à-vis flog krachend eine Tür auf, ein Kellner kam wie ein Komet herausgeschossen, sauste quer durch den Saal und verschwand durch eine zweite Tür am anderen Ende des Raumes.
Drei solcher Blitzdurchgänge brauchte es, bevor die beiden Arbeitsuchenden auf den schlauen Einfall kamen, einen der Kellner anzusprechen. Er wandte sich um, sah sie misstrauisch an und näherte sich ihnen dann auf leisen Sohlen, geschmeidig wie eine Katze, gleichsam bereit, jeden Moment kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen.
»Sag mal«, fing Key an, »sag mal, kennst du vielleicht mein’ Bruder? Der is hia Kellner.«
»Er heißt Key«, ergänzte Rose.
Ja, der Kellner kannte Key. Der sei vermutlich oben, meinte er. Im zentralen Ballsaal sei ein großes Tanzvergnügen. Er werde ihm Bescheid sagen.
Zehn Minuten später erschien George Key und begrüßte seinen Bruder mit äußerstem Argwohn, war doch sein erster und natürlichster Gedanke, dass dieser ihn gewiss um Geld angehen wolle.
George war ein hochgewachsener Mann mit fliehendem Kinn, doch damit war’s auch schon vorbei mit der Familienähnlichkeit. Die Augen des Kellners waren durchaus nicht trübe, sondern hellwach, und sie blitzten nur so, er war höflich und manierlich und ein ganz klein wenig von oben herab. Sie tauschten steif ein paar Informationen aus. George war verheiratet und hatte drei Kinder. Dass Carrol als Soldat im Ausland gewesen war, nahm er mit Interesse zur Kenntnis, ohne sich jedoch davon beeindrucken zu lassen. Das enttäuschte Carrol.
»Du, George«, sagte der jüngere Bruder, nachdem sie die Artigkeiten hinter sich gebracht hatten, »wir wolln uns so gerne ein’ ansaufen, und uns verkaufen se doch nix. Kannst du uns nich was besorgen?«
George dachte nach.
»Klar. Müsste zu machen sein. Kann aber eine halbe Stunde dauern.«
»Is gut«, sagte Carrol, »wir warten.«
Als Rose sich daraufhin anschickte, in einem bequemen Sessel Platz zu nehmen, scheuchte George ihn empört wieder hoch: »Heh! Pass bloß auf, du! Kannst dich doch hier nicht einfach hinsetzen! Ist doch schon alles eingedeckt fürs
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