Winterträume
am Abend fröhlich zu seiner Frau, »ich glaube, wir sind aus dem Schneider. Paulson meint, ich könnte mein Debüt im Hippodrom machen, und das heißt, ich wäre für den ganzen Winter engagiert. Weißt du, das Hippodrom, das ist so ein großer –«
»Ja, ja, davon hab ich, glaub ich, schon mal was gehört«, unterbrach ihn Marcia, »aber ich will wissen, was das für eine Nummer is, die du da machst. Das is doch wohl kein sensationeller öffentlicher Selbstmord, oder?«
»Nein, nein«, beruhigte Horace sie. »Aber wenn dir eine Methode einfällt, wie man sich noch schöner umbringen kann, als indem man für dich sein Leben riskiert, dann sag Bescheid, weil, dann wär das die Art, wie ich gern sterben möchte.«
Marcia stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihm die Arme um den Hals.
»Küss mich«, flüsterte sie, »und sag ›liebes Herz‹ zu mir. Ich hör’s so gerne, wenn du ›liebes Herz‹ zu mir sagst. Und bring mir morgen ein Buch mit, dass ich was zu lesen hab. Aber keinen Sam Pepys mehr, sondern so ’n schönen ollen Schmöker. Ich bin heut schon den ganzen Tag so richtig wild drauf, irgendwas zu machen. Ich hatte solche Lust, Briefe zu schreiben, aber dann is mir eingefallen, ich hab ja gar niemand, an den ich schreiben kann.«
»Schreib doch an mich«, sagte Horace. »Ich lese sie bestimmt.«
»Ach, wenn ich das doch könnte«, seufzte Marcia. »Wenn ich doch nur genügend Wörter kennen würde, dann tät ich dir den längsten Brief der Welt schreiben – und dabei niemals müde werden.«
Aber nach zwei Monaten wurde Marcia dann doch müde, sehr müde sogar, und der junge Athlet, der Abend für Abend im Hippodrom vor die Menge trat, sah eine Zeitlang sehr bekümmert und erschöpft aus. Dann kamen zwei Tage, an denen ihn ein junger Mann ersetzte, der anstatt in Weiß in Hellblau auftrat und nur sehr wenig Beifall erhielt. Doch nach diesen beiden Tagen war Horace zurück, und den Leuten auf den vorderen Plätzen fiel auf, dass der junge Akrobat selbst noch bei dem sensationellen, weltweit einzigartigen Schulterschwung, bei dem er atemlos in der Luft herumwirbelte, förmlich zu strahlen schien vor lauter Glück. Und nach der Vorstellung lachte er dem Fahrstuhlführer ins Gesicht und rannte, immer fünf Stufen auf einmal, die Treppen zu seiner Wohnung hinauf – um dann auf Zehenspitzen und ganz behutsam in ein stilles Zimmer einzutreten.
»Marcia«, flüsterte er.
»Hallo!« Sie lächelte matt zu ihm empor. »Horace, kannste mir mal ’n Gefallen tun? Schau doch mal in der obersten Schublade von meim Sekretär nach, da findest du ’n dicken Stapel Papier. Das ist ’n Buch – na ja, oder jedenfalls so was Ähnliches – Horace. Das habe ich geschrieben, ganz alleine, die letzten drei Monate, wo ich im Bett bleiben musste. Ob du das vielleicht zu Peter Boyce Wendell bringen könntest, der damals meinen Brief in seiner Zeitung abgedruckt hat? Der kann dir sagen, ob’s was taugt. Ich hab genauso geschrieben, wie ich rede, genauso wie in dem Brief an ihn. Es is einfach ’ne Geschichte über ’ne Menge Sachen, die mir passiert sind. Würdest du ihm das bitte bringen, Horace?«
»Ja, Liebling.«
Er beugte sich über das Bett, bis sein Kopf das Kopfkissen berührte und neben ihrem lag, und strich ihr zärtlich das strohblonde Haar zurück.
»Liebste Marcia«, sagte er sanft.
»Nein«, murmelte sie, »nicht so, du weißt doch, wie du zu mir sagen sollst.«
»Liebes Herz«, flüsterte er leidenschaftlich, »liebstes, liebstes Herz.«
»Was wollen wir ihr denn für einen Namen geben?«
Sie lagen einen Augenblick in schweigendem, glückstrunkenem Einverständnis, während Horace überlegte.
»Marcia Hume Tarbox soll sie heißen«, sagte er nach einer Weile.
»Und wieso Hume?«
»Weil das der Name von dem Burschen ist, der uns zwei zusammengebracht hat.«
»Ach so?«, murmelte sie in schläfriger Verwunderung. »Ich dachte immer, der hieß Moon.«
Dann fielen ihr die Augen zu, und im nächsten Moment verrieten die sanften Wellenbewegungen der Bettdecke über ihrer Brust, dass sie eingeschlafen war.
Auf Zehenspitzen ging Horace hinüber zu dem Sekretär, zog die oberste Schublade auf und fand dort einen Stapel eng bekritzelter, teils verwischter Bleistiftseiten. Er schaute sich das erste Blatt an:
SANDRA PEPYS, MIT SYNKOPEN
VON MARCIA TARBOX
Er lächelte. Hatte Samuel Pepys sie also doch beeindruckt. Er blätterte weiter und begann zu lesen. Sein Lächeln wurde breiter – er las
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