Winterträume
weiter. Nach einer halben Stunde merkte er, dass Marcia aufgewacht war und ihn vom Bett aus beobachtete.
»Süßer«, hörte er sie flüstern.
»Was denn, Marcia?«
»Gefällt’s dir?«
Horace hustete.
»Sonst würde ich doch nicht weiterlesen, oder? Es ist brillant.«
»Bring es zu Peter Boyce Wendell. Sag, dass du früher in Princeton nur die besten Noten hattest und ganz genau weißt, ob ’n Buch was taugt. Sag ihm, das da is Spitzenklasse.«
»Ist gut, Marcia«, sagte Horace liebevoll.
Ihre Augen fielen wieder zu, Horace kam zurück, er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, blieb einen Moment bei ihr stehen und betrachtete sie voll zärtlicher Ergriffenheit. Dann ging er aus dem Zimmer.
Die ganze Nacht lang tanzten ihm die kritzelige Handschrift, die zahllosen Rechtschreib- und Grammatikfehler und die eigenwillige Interpunktion vor den Augen herum. Ein ums andere Mal fuhr er aus dem Schlaf hoch und wurde überrollt von Wogen eines wirren Mitgefühls mit diesem Drang, sich in Worten auszudrücken, der Marcias Seele erfasst hatte. Das alles hatte etwas ungemein Anrührendes, und zum ersten Mal seit Monaten wälzte er in Gedanken wieder seine eigenen, halb vergessenen Träume.
Eigentlich hatte er vorgehabt, eine ganze Serie von Büchern zu schreiben, mit denen er den Neurealismus populär machen wollte, genauso wie Schopenhauer den Pessimismus bekannt gemacht hatte und William James den Pragmatismus.
Aber das Leben war andere Wege gegangen. Das Leben schnappt sich seine Leute und bringt sie dazu, an irgendwelchen Ringen durch die Luft zu fliegen. Er dachte an das Klopfen an seiner Tür, die schimmernde Gestalt in Hume, an Marcias angedrohten Kuss.
»Und das bin alles ich«, sagte er verwundert vor sich hin, während er schlaflos im Dunkeln lag. »Ich bin es, der in Berkeley saß und die Kühnheit hatte, sich zu fragen, ob das Klopfen wirklich existiert hätte, wenn mein Ohr nicht da gewesen wäre, es zu hören. Ich bin immer noch derselbe. Ich könnte auf den elektrischen Stuhl kommen für die Verbrechen, die der, der ich damals war, begangen hat. Arme, zarte Seelen, die wir sind, versuchen wir, uns auszudrücken in irgendeiner Form, die für uns fassbar ist – Marcia in diesem Buch, das sie geschriebenen hat, und ich in meinen ungeschriebenen Büchern –, versuchen wir, die Form zu finden, die uns entspricht, und dann zu nehmen, was wir kriegen können – und damit froh zu werden.«
V
Sandra Pepys, In Synkopen, erschien zunächst mit einer Einführung des bekannten Kolumnisten Peter Boyce Wendell in Jordan’s Magazine als Fortsetzungsroman und kam im März auch in Buchform heraus. Gleich von der ersten Folge an stieß die Geschichte auf breites Interesse. Ein ausgesprochen abgedroschenes Thema – junges Mädchen aus einer Kleinstadt in New Jersey kommt nach New York und will zum Theater –, simple Komposition, jedoch eigenwillige, sehr lebendige Formulierungen und, bei aller Unzulänglichkeit des Vokabulars, ein berückend trauriger Unterton – kurzum, eine Mischung, die einfach unwiderstehlich war.
Peter Boyce Wendell, der seinerzeit zufällig gerade für die Bereicherung der amerikanischen Sprache mittels sofortiger Einverleibung ausdrucksstarker Wörter aus dem Jargon der einfachen Leute eintrat, gab sich öffentlich als Befürworter zu erkennen und knallte den blassen Langweilern von der konventionellen Literaturkritik sein Plazet vor den Latz.
Jordan’s Magazine zahlte Marcia 300 Dollar je Folge, was sehr gelegen kam, denn obwohl Horace’ Monatseinkommen am Hippodrom mittlerweile weit über allem lag, was Marcia je verdient hatte, fuhr die kleine Marcia fort, ihre gellenden Schreie auszustoßen, was die jungen Eltern als eine Forderung nach frischer Landluft deuteten. Und so bezogen sie denn Anfang April ein Häuschen in Westchester County mit genügend Platz für einen Rasen und genügend Platz für eine Garage und genügend Platz für alles andere, einschließlich eines schalldichten, komplett abgeschotteten Arbeitszimmers, in das sich Marcia, wie sie Mr. Jordan in gutem Glauben versprach, einschließen wollte, um weitere unsterbliche literarische Kostbarkeiten für die ungebildeten Stände zu verfassen, sobald die Bedürfnisse ihrer Tochter abflauen würden.
»Läuft doch gar nicht schlecht«, sinnierte Horace eines Nachts auf dem Weg vom Bahnhof zu seinem Haus. Er dachte über verschiedene Perspektiven nach, die sich gerade eröffnet hatten; da war zum einen ein
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