Winterträume
erwischen.
Ausnahmslos hat sie eine schlafsüchtige Mutter, mit der sie eine Suite in einem der oberen Stockwerke teilt.
Wenn Myra etwa vierundzwanzig ist, denkt sie zurück an all die netten Jungen, die sie irgendwann einmal hätte heiraten können, gibt einen kleinen Seufzer von sich und macht das Beste aus ihrer Situation. Aber bitte, keine Bemerkungen! Sie hat einem schließlich ihre Jugend geschenkt; sie ist duftig durch zahllose Ballsäle gewirbelt, andächtig angebetet von zahllosen Augen; sie hat einen nie gekannten Rausch von Romantik in hundert vergötternden jungen Herzen erweckt; und wer sollte sagen, sie hätte nicht gezählt?
Die spezielle Myra, von der diese Geschichte handelt, braucht etwas geschichtlichen Hintergrund. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Als sie sechzehn war, lebte sie in einem großen Haus in Cleveland und besuchte die Derby School in Connecticut, und noch während dieser Zeit begann sie, auf ihre ersten Schul- und Collegebälle zu gehen. Sie entschloss sich, den Krieg am Smith College zu verbringen, doch im Januar ihres ersten Studienjahres verliebte sie sich unsterblich in einen jungen Infanterieoffizier, fiel darauf bei allen Zwischenprüfungen durch und zog sich mit Schimpf und Schande nach Cleveland zurück. Der junge Infanterieoffizier kam etwa eine Woche später dort an.
Gerade als sie beinahe zu dem Schluss gekommen war, dass sie ihn doch nicht liebte, wurde er nach Übersee versetzt, worauf sie in einem großen Wiederaufwallen ihrer Gefühle gemeinsam mit ihrer Mutter zum Hafen eilte, um ihm vor dem Einschiffen Lebewohl zu sagen. Zwei Monate lang schrieb sie ihm täglich, dann zwei Monate lang wöchentlich, und dann noch einmal. Diesen letzten Brief hat er nie erhalten; an einem regnerischen Julimorgen durchschlug eine Maschinengewehrkugel seinen Kopf. Vielleicht war es auch besser so, denn der Brief teilte ihm mit, im Grunde sei alles ein Irrtum gewesen und irgendetwas sage ihr, dass sie niemals miteinander glücklich geworden wären, und so fort.
Dieses »irgendetwas« trug Stiefel und Leutnantsabzeichen der Luftwaffe und war groß und dunkelhaarig. Myra war ziemlich sicher, er sei nun der Richtige, doch da sich Mitte August auf dem Flugplatz Kelly Field ein Propeller in seine Brust bohrte, erhielt sie nie Gelegenheit, sich Gewissheit zu verschaffen.
Stattdessen kam sie wieder an die Ostküste; ein wenig schmaler, mit einer interessanten Blässe und neuen Schatten unter den Augen; das ganze Jahr des Waffenstillstands hindurch hinterließ sie überall in New York Zigarettenstummel auf kleinen Porzellanaschenbechern mit der Aufschrift Midnight Frolic oder Cocoanut Grove oder Palais Royal. Mittlerweile war sie einundzwanzig geworden, und in Cleveland meinten die Leute, ihre Mutter täte besser daran, sie nach Hause zu holen – sie würde in New York verdorben.
Das muss genügen. Die Geschichte hätte schon längst beginnen sollen.
Es war an einem Nachmittag im September, als sie eine Verabredung zu einem Theaterbesuch nicht einhielt, um mit der jungen Mrs. Arthur Elkins, die am College das Zimmer mit ihr geteilt hatte, Tee zu trinken.
»Ich wünschte«, begann Myra, während sie formvollendet Platz nahmen, »ich wäre eine Señorita oder eine Mademoiselle oder irgend so was. Mein Gott! Was bleibt einem denn hierzulande noch zu tun, wenn man erst mal draußen ist, außer zu heiraten und sich zurückzuziehen?!«
Lilah Elkins hatte diese Form von ennui schon früher erlebt.
»Nichts«, erwiderte sie kühl, »mach’s halt.«
»Irgendwie reizt mich der Gedanke nicht, Lilah.« Myra beugte sich mit ernster Miene vor. »Ich habe so viel herumgeflirtet, ich frage mich sogar schon während ich einen Mann küsse, wie schnell ich ihn wohl wieder satthaben werde. Es packt mich einfach nicht mehr so wie früher.«
»Wie alt bist du, Myra?«
»Einundzwanzig, seit letztem Frühjahr.«
»Also«, sagte Lilah selbstgefällig, »glaub mir, heirate erst, wenn du wirklich genug hast vom Flirten. Man muss nämlich eine Menge aufgeben, weißt du.«
»Wenn ich genug habe? Meine ganze sinnlose Existenz hängt mir zum Hals heraus. Es ist komisch, Lilah, aber ich fühle mich uralt. Im letzten Frühjahr, in New Haven, haben Männer mit mir getanzt, die kamen mir vor wie kleine Jungs – und einmal habe ich zufällig gehört, wie im Ankleideraum ein Mädchen sagte: ›Da ist Myra Harper! Die kommt schon seit acht Jahren hierher.‹ Natürlich hat sie sich um etwa
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