Winterträume
so hinstellen, als ob ich was an dir auszusetzen hätte, oder wie?«
»Ganz und gar nicht.«
Sie schwieg. Bartholomew brummte irgendwas. Sie drehte sich um und sah, dass er seinen Schreibtisch verlassen hatte und am Fenster stand.
»Was ist denn los?«, fragte Henry.
»Lauter Leute«, sagte Bartholomew, und dann, nach einer kleinen Pause:
»Unmassen. Die kommen von der Sixth Avenue.«
»Leute?«
Der pummellige Mann drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt.
»Gott steh mir bei, Soldaten!«, sagte er mit fester Stimme. »Hab mir gleich gedacht, dass die noch mal wiederkommen.«
Edith sprang auf; sie rannte rüber ans Fenster zu Bartholomew und schaute mit ihm zusammen hinaus.
»Es sind ganz, ganz viele!«, rief sie aufgeregt. »Henry, komm her!«
Henry rückte sich seinen Augenschirm zurecht, blieb aber sitzen.
»Vielleicht sollten wir lieber das Licht ausmachen?«, schlug Bartholomew vor.
»Ach was. Die sind gleich wieder weg.«
»Du irrst dich«, sagte Edith, die immer noch am Fenster stand und vorsichtig hinausspähte. »Die denken gar nicht daran, wegzugehen. Es kommen immer mehr. Sieh doch nur – da vorne von der Sixth Avenue her, da kommt ein ganzer Pulk um die Ecke gebogen.«
Im gelben, blaue Schatten werfenden Schein der Straßenlaterne erkannte sie, dass das ganze Trottoir voller Menschen war. Die meisten waren in Uniform, einige nüchtern, einige vom Alkohol beschwingt, und über dem Ganzen wogte ein diffuses Gejohle und Gekreische.
Henry stand auf; er trat ans Fenster und zeigte sich im Licht der Bürolampen als langer Schattenriss den Demonstranten. Sogleich schwoll das Gekreische an zu einem anhaltenden Gebrüll, und eine Salve von kleinen Wurfgeschossen – Kautabackbröckchen, Zigarettenschachteln, ja sogar Pennymünzen – prasselte an die Scheibe. Und dann begannen die Türen zu rotieren, und nach und nach kroch der Lärm bis zu ihnen herauf.
»Sie kommen rauf!«, schrie Bartholomew.
Edith schaute ängstlich zu Henry hinüber.
»Sie kommen hier rauf, Henry.«
Von unten aus dem Vestibül waren jetzt deutlich einzelne Rufe auszumachen.
»– gottverdammtes Sozialistenpack!«
»Deutschenfreunde! Die sind für die Boches!«
»Erster Stock, vorne! Na, los doch!«
»Die schnappen wir uns, die Schweine…«
Die nächsten fünf Minuten waren wie ein Traum. Edith merkte noch, wie sich der Tumult gleich einer Regenwolke jäh über ihnen entlud; sie hörte das Getrappel vieler Füße draußen auf der Treppe, Henry hatte sie am Arm gepackt und in die hinterste Ecke des Raums gezerrt. Dann sprang die Tür auf, und ein Schwall von Menschen drängte herein – nicht die Anführer, sondern einfach die, die zufällig vorne waren.
»Hallo, Bürschchen!«
»Na, so spät noch auf?«
»Mit deiner Puppe. Hol’s der Teufel!«
Edith entdeckt unter denen, die nach vorne gespült worden waren, zwei sturzbetrunkene, albern herumtorkelnde Soldaten – der eine klein und dunkelhaarig, der andere hochgewachsen und mit fliehendem Kinn.
Henry trat vor und hob die Hand.
»Freunde!«, rief er.
Für einen Augenblick erstarb der Lärm, und nur hier und da war vereinzeltes Gemurmel zu hören.
»Freunde!«, wiederholte er, den weitschweifenden Blick auf einen Punkt oberhalb der Menge geheftet, »damit, dass ihr heute Nacht hier einbrecht, schadet ihr niemand anders als euch selber. Sehen wir etwa wie reiche Leute aus? Sehen wir aus wie Deutsche? Ich frage euch in aller Offenheit –«
»Halt die Fresse!«
»Genau so seht ihr aus!«
»He, Kumpel, deine Puppe is ’ne richtich feine Dame, was!«
Plötzlich hielt ein Zivilist, der auf einem der Tische herumgewühlt hatte, eine Zeitung in die Höhe.
»Hier steht’s doch drin!«, schrie er. »Die wollten, dass die Deutschen den Krieg gewinnen!«
Vom Treppenhaus her schwappte die nächste Welle herein, und mit einem Mal war der Raum voll von Männern, die das blasse Grüppchen im Hintergrund umzingelten. Edith sah den hochgewachsenen Soldat mit dem fliehenden Kinn, der immer noch ganz vorne war. Der kleine Dunkle aber war verschwunden.
Sie wich noch etwas weiter zurück und stand jetzt dicht am offenen Fenster, durch das ein Schwall klarer, kühler Nachtluft hereinwehte.
Und dann war plötzlich alles in hellem Aufruhr. Sie kriegte mit, wie Soldaten nach vorn stürmten, erspähte den pummeligen Mann, der einen Stuhl überm Kopf schwang – im nächsten Moment ging das Licht aus, sie spürte das Herandrängen warmer Körper unter rauhem Tuch,
Weitere Kostenlose Bücher