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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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und ihr platzte fast das Trommelfell von all dem Schreien, dem Getrampel und Gekeuche.
    Gleichsam aus dem Nichts tauchte eine Gestalt neben ihr auf, stolperte, wurde zur Seite geschubst und flog auf einmal hilflos mit einem abgerissenen, staccatohaft anschwellenden und dann im allgemeinen Krawall ersterbenden Angstschrei zum offenen Fenster hinaus. Im schwachen Licht, das von dem hinten angrenzenden Haus herüberschien, wurde Edith blitzartig klar, dass die Gestalt der hochgewachsene Soldat mit dem fliehenden Kinn gewesen war.
    Sie staunte selber über die enorme Wut, die plötzlich in ihr hochstieg. Sie ruderte wild mit den Armen und schob sich blindlings mitten ins Gedränge, wo es am dichtesten war. Sie hörte Ächzen, Flüche, gedämpfte Fausthiebe.
    »Henry!«, rief sie wie von Sinnen. »Henry!«
    Und dann, Minuten später, spürte sie auf einmal, dass noch andere Gestalten im Raum waren. Sie hörte eine tiefe, einschüchternde, gebieterische Stimme; hier und da strichen gelbe Lichtkegel über dem Tumult dahin. Allmählich ließ das Geschrei nach. Die Rauferei schwoll nochmals an, um schließlich abzuflauen.
    Auf einmal ging das Licht an, und der Raum war voller Polizisten, die rechts und links mit ihren Knüppeln um sich schlugen. Dröhnend rief die tiefe Stimme:
    »Schluss jetzt! Schluss jetzt! Schluss jetzt!«
    Und dann:
    »Ruhe jetzt und raus hier! Schluss jetzt!«
    Daraufhin leerte sich der Raum, wie wenn man eine Waschschüssel auskippt. Ein Polizist, der noch in einer Ecke in ein Handgemenge verwickelt war, ließ den Soldaten, mit dem er kämpfte, los und beförderte ihn mit einem kräftigen Schubs in Richtung Tür. Die tiefe Stimme dröhnte immer noch. Edith stellte fest, dass sie von einem stiernackigen Polizeihauptmann kam, der direkt an der Tür stand.
    »Schluss jetzt! So geht das doch nicht! Da hinten hamse ein’ von euch zum Fenster rausgeschubst, da is ’n Soldat zu Tode gekommen!«
    »Henry!«, rief Edith. »Henry!«
    Sie trommelte wie eine Wilde mit den Fäusten auf den Rücken des Mannes ein, der vor ihr stand, schob sich zwischen zwei anderen hindurch, kämpfte, kreischte und boxte sich durch bis zu der Gestalt, die kreidebleich neben einem der Schreibtische auf dem Boden saß.
    »Henry«, schrie sie außer sich, »was ist denn los? Was ist mit dir? Bist du verletzt?«
    Er hatte die Augen geschlossen. Er stöhnte, dann sah er auf und sagte wütend: »Die haben mir das Bein gebrochen. Mein Gott, diese Idioten!«
    »Schluss jetzt!«, rief der Polizeihauptmann. »Schluss jetzt! Schluss jetzt!«
    IX
     
    Morgens um acht unterscheidet sich das Childs in der Fifty-ninth Street von den anderen Vertretern der gleichnamigen Kette allenfalls durch die Breite seiner Marmortische und den Blankheitsgrad der Bratpfannen. Ansonsten sieht man dort einfach eine Menge armer Teufel, die noch den Schlafsand in den Augen haben und angestrengt auf ihre Teller stieren, um niemanden ringsherum ansehen zu müssen. Vier Stunden früher aber ist das Imbissrestaurant Childs in der Fifty-ninth Street mit keinem anderen Childs von Portland, Oregon, bis Portland, Maine, zu vergleichen. In seinen blassen, aber hygienisch einwandfreien Mauern findet man eine lärmende Schar von Revuegirls, Collegestudenten, Debütantinnen, Lebemännern und Freudenmädchen – ein durchaus repräsentatives Gemisch aus allem, was der Broadway und selbst noch die Fifth Avenue an bunten Vögeln zu bieten hat.
    In den frühen Morgenstunden des zweiten Mai herrschte ungewöhnlich großer Andrang. An den Marmortischen saßen mit aufgeregten Gesichtern Bubikopfmädchen, deren Väter ganze Dörfer ihr Eigen nannten. Genüsslich und mit gesundem Appetit aßen sie Pfannkuchen aus Buchweizenmehl und Rührei, eine Leistung, die am selben Ort zu wiederholen ihnen vier Stunden später völlig unmöglich gewesen wäre.
    Bis auf die Tänzerinnen einer Mitternachtsrevue, die an einem Tisch an der Seite saßen und sich ärgerten, dass sie sich nach der Show nicht etwas gründlicher abgeschminkt hatten, kam fast die ganze Gesellschaft vom Gamma-Psi-Ball im Delmonico. Hier und da beobachtete eine trübsinnige, hoffnungslos deplatziert wirkende mausgraue Gestalt mit müde staunender Neugier die Schar der bunten Schmetterlinge. Doch solche trübsinnigen Gestalten waren die Ausnahme. Es war der Morgen nach dem Ersten Mai; die Festtagsstimmung lag noch in der Luft.
    Zu diesen trübsinnigen Gestalten muss auch Gus Rose gerechnet werden, der zwar unterdessen

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