Winterträume
nüchtern war, aber dennoch einigermaßen benommen. Wie er nach dem Tumult von der Forty-fourth Street in die Fifty-ninth Street gekommen war, daran konnte er sich nur äußerst vage erinnern. Er hatte noch gesehen, wie sie den toten Carrol Key in einen Krankenwagen geschoben und abtransportiert hatten; danach war er mit zwei, drei anderen Soldaten zusammen losgegangen in Richtung Norden. Irgendwo zwischen der Forty-fourth und der Fifty-ninth Street hatten die anderen Soldaten ein paar Frauen getroffen und sich mit ihnen aus dem Staub gemacht. Rose war weitermarschiert bis zum Columbus Circle und hatte sich das Childs mit seiner grellen Leuchtreklame ausgesucht, um dort sein Verlangen nach Kaffee und Doughnuts zu stillen. Er ging hinein und setzte sich.
Um ihn herum schwirrte die Luft von munter dahinplätscherndem Geplapper und schrillem Gelächter. Zuerst begriff er gar nichts, doch nachdem er fünf Minuten gerätselt hatte, was los war, wurde ihm klar, dass er mitten in die Nachwehen einer ausgelassenen Party geraten war. Hier und da flanierte ein übermütiger junger Mann, den das Verlangen nach allgemeiner Verbrüderung und familiärer Vertraulichkeit von seinem Stuhl hochgetrieben hatte, zwischen den Tischen umher, schüttelte wahllos Hände und blieb hin und wieder stehen, um ein paar lustige Bemerkungen zu wechseln, bis einer der aufgeregten, Teller mit Kuchen und Rührei über ihren Köpfen balancierenden Kellner kam und ihn leise fluchend beiseiteschubste. Auf Rose, der an einem besonders unauffälligen Tisch Platz genommen hatte, an dem besonders wenige Leute saßen, wirkte all das wie ein bunter Zirkus von Schönheit und lärmender Vergnügungssucht.
Nach einer kleinen Weile dämmerte ihm allmählich, dass das Pärchen schräg gegenüber von ihm, das mit dem Rücken zum Saal saß, gar nicht uninteressant war. Der Mann war betrunken. Er trug einen Smoking, doch die Fliege hing offen herunter, und das Chemisett war aufgequollen von verschüttetem Wein und Wasser. Seine Augen waren trüb und von roten Äderchen durchschossen, und sein wirrer Blick schweifte unstet bald zur einen, bald zur anderen Seite. Sein Atem ging heftig und keuchend.
»Der hat aber ganz schön einen draufgemacht!«, dachte Rose.
Die Frau war auch nicht völlig, aber doch ziemlich nüchtern. Sie war hübsch, hatte dunkle Augen und vor Aufregung gerötete Wangen und einen wachsamen Raubvogelblick, mit dem sie ihren Gefährten die ganze Zeit fixierte. Hin und wieder beugte sie sich zu ihm rüber und redete eindringlich flüsternd auf ihn ein, worauf er den Kopf noch tiefer hängen ließ oder mit einem scheußlichen, eigentümlich makaberen Blinzeln reagierte.
Rose beobachtete die beiden eine Weile mit unverhohlener Neugier, bis die Frau ihm einen raschen, tadelnden Blick zuwarf; daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit zwei besonders aufgekratzten, besonders übermütigen Flaneuren zu, die sich auf einem ausgedehnten Bummel von einem Tisch zum anderen befanden. Zu seiner Überraschung erkannte er in einem der beiden den jungen Mann wieder, der ihn im Delmonico so lustig bewirtet hatte. Sogleich musste er fast wehmütig und nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht an Key denken. Key war tot. Er war über zehn Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich den Schädel gebrochen – aufgeplatzt wie eine geknackte Kokosnuss.
»Er war ’n verdammt guter Kerl«, dachte Rose bekümmert, »’n verdammt guter Kerl, alles, was recht is. Hat verdammt Pech gehabt, der Junge.«
Die beiden Flaneure kamen näher, sie schlängelten sich zwischen Rose’ Tisch und dem daneben hindurch und sprachen Bekannte und Unbekannte mit gleichermaßen jovialer Vertraulichkeit an. Plötzlich sah Rose, wie der Blonde mit den vorstehenden Zähnen stehenblieb, das vis-à-vis von ihm sitzende Pärchen fragend ansah und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte.
Der Mann mit den rotgeäderten Augen schaute auf.
»Gordy«, sagte der Flaneur mit dem Nahkampfgebiss, »Gordy.«
»Hallo«, erwiderte der Mann mit dem bekleckerten Chemisett mit schwerer Zunge.
Der mit dem Nahkampfgebiss drohte dem Pärchen missmutig mit dem Zeigefinger und warf der Frau einen verächtlichen, hochmütig-tadelnden Blick zu.
»Was hab ich dir denn gesagt, Gordy?«
Gordon zuckte auf seinem Stuhl zusammen.
»Scher dich doch zum Teufel!«, antwortete er.
Dean blieb ungerührt stehen und fuhr fort, mit dem Zeigefinger zu wackeln. Die Frau wurde langsam wütend.
»Gehn Sie schon!«, schrie sie erzürnt.
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