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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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halb erleichtert, halb verzweifelt um sich blickend, zögerte noch immer; und plötzlich zog sie ihn an sich und küsste ihn mit weichen, fleischigen Lippen.
    »Na schön«, sagte er mit schwerer Zunge. »Ich geh und hol mein’ Hut.«
    VIII
     
    Die Avenue war menschenleer, als Edith ins klare Blau der Maiennacht hinaustrat. Die Schaufenster der großen Geschäfte waren dunkel; die Türen verbargen ihre Gesichter hinter schweren eisernen Masken und erschienen nur mehr wie die düsteren Grabmale des Glamours des dahingegangenen Tages. Als sie zur Forty-second Street hinüberblickte, verschwammen die flimmernden Lichter der Nachtlokale vor ihren Augen und flossen ineinander. Quer über die Sixth Avenue donnerte zwischen den funkelnden Lichterreihen des Bahnhofs die Hochbahn wie ein greller Feuerstrahl dahin und raste weiter in die frische dunkle Nachtluft. An der Forty-fourth Street aber war alles still.
    Edith wickelte sich fester in ihren Abendmantel und rannte über die Fahrbahn. Als ein einzelner Mann an ihr vorüberging und heiser flüsterte: »Na, Kleine, so spät noch unterwegs?«, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie musste daran denken, wie sie einmal als kleines Mädchen nachts im Schlafanzug um den Block gestreift war und plötzlich von einem großen, unheimlichen Hinterhof her einen Hund hatte heulen hören.
    Eine Minute später hatte sie ihr Ziel erreicht, ein zweigeschossiges, relativ altes Gebäude an der Forty-fourth Street, hinter dessen oberem Fenster sie zu ihrer Erleichterung noch Licht brennen sah. Draußen war es hell genug, dass sie das Schild neben dem Fenster erkennen konnte: New York Trumpet. Sie trat in den dunklen Hausflur, und nach ein paar Sekunden entdeckte sie in der Ecke die Treppe.
    Wenig später befand sie sich in einem langen Raum mit vielen Schreibtischen, an dessen Wänden ringsherum lauter Zeitungsseiten hingen. Es waren nur zwei Männer dort. Einer saß im vorderen, einer im hinteren Teil des Raumes, beide trugen grüne Augenschirme und schrieben jeweils beim Licht einer einzelnen Schreibtischlampe.
    Sie blieb einen Moment lang unentschlossen in der Tür stehen, doch dann wandten sich die beiden Männer plötzlich gleichzeitig um, und sie erkannte ihren Bruder.
    »Edith! Na, so eine Überraschung!« Schnell stand er auf, kam auf sie zu und nahm seinen Augenschirm ab. Er war groß und schlaksig, hatte dunkles Haar und durchdringende dunkle Augen, die hinter ungewöhnlich dicken Brillengläsern hervorschauten. Augen, deren Blick ins Weite ging und immer auf einen Punkt irgendwo oberhalb der Person geheftet zu sein schien, mit der er gerade sprach.
    Er nahm sie bei den Armen und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
    »Was ist denn passiert?«, fragte er leicht besorgt.
    »Ach, Henry, ich war bei einem Tanzabend im Delmonico«, sagte sie aufgeregt, »und da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, rasch mal rübergehuscht zu kommen und dich zu besuchen.«
    »Na, das ist ja eine Freude!« Doch im nächsten Moment war seine Lebhaftigkeit wieder der gewohnten Zerstreutheit gewichen. »Aber meinst du nicht auch, du solltest nachts nicht so allein da draußen rumlaufen?«
    Der Mann am anderen Ende des Raumes hatte sie zunächst neugierig von weitem gemustert, war dann aber auf Henrys einladende Geste hin zu ihnen herübergekommen. Er war ziemlich pummelig, hatte kleine, ständig zwinkernde Augen, und da er Schlips und Kragen abgelegt hatte, erinnerte er ein bisschen an einen Farmer aus dem Mittleren Westen an einem Sonntagnachmittag.
    »Das hier ist meine Schwester«, sagte Henry. »Sie ist bloß kurz vorbeigekommen, um mich zu besuchen.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Bradin«, sagte der mollige Mann lächelnd. »Mein Name ist Bartholomew. Ich weiß, Ihr Bruder hat schon längst vergessen, wie ich heiße.«
    Edith lachte höflich.
    »Tja«, fuhr er fort, »eine Luxusunterkunft ist das hier nicht gerade, nicht wahr?«
    Edith sah sich um im Raum.
    »Ist doch ganz hübsch hier«, erwiderte sie. »Wo halten Sie denn die Bomben versteckt?«
    »Die Bomben?«, wiederholte Bartholomew lachend. »Der ist gut – die Bomben. Hast du das gehört, Henry? Sie will wissen, wo wir die Bomben versteckt halten. Alle Achtung, der ist richtig gut.«
    Edith schwang sich auf einen leeren Schreibtisch und ließ die Beine über die Tischkante baumeln. Ihr Bruder zog sich einen Stuhl heran.
    »Na«, fragte er geistesabwesend, »und wie gefällt New York dir diesmal so?«
    »Ganz gut. Bis Sonntag bin

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