Winterträume
versuchte, sie konnte nicht erkennen, wo sie versagt oder aus welchem Grund sich seine Haltung ihr gegenüber verändert hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich einem Mann ganz offenkundig angeboten – und er hatte sie nicht gewollt. Ihre prekäre Situation verblasste neben dieser tragischen Niederlage.
Sie ließ den Wagen weiterfahren – obwohl sie jetzt eigentlich frische Luft gebraucht hätte. Zehn trostlose Minuten verstrichen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie keinen Penny hatte, um den Fahrer zu bezahlen.
›Egal‹, dachte sie. ›Sie werden mich ins Gefängnis schicken, dann habe ich wenigstens einen Platz zum Schlafen.‹
Sie begann, an den Taxifahrer zu denken.
»Er wird böse sein, wenn er es erfährt, der arme Mann. Vielleicht ist er sehr arm und muss die Fahrtkosten selbst bezahlen.« Voll diffuser Rührseligkeit fing sie an zu weinen.
»Armer Taxifahrer«, sagte sie halblaut. »Ach, die Menschen haben es so schwer – so schwer!«
Sie klopfte ans Fenster, und als der Wagen am Bordstein hielt, stieg sie aus. Sie befanden sich am Ende der Fifth Avenue, und es war dunkel und kalt.
»Holen Sie die Polizei!«, rief sie rasch und leise. »Ich habe kein Geld!«
Der Taxifahrer schaute sie mit finsterem Blick an.
»Warum sind Sie dann überhaupt eingestiegen?«
Sie hatte nicht bemerkt, dass ein weiterer Wagen ungefähr zehn Meter hinter ihnen angehalten hatte. Sie hörte Laufschritte auf dem Schnee und dann eine Stimme neben ihr.
»Es ist in Ordnung«, sagte jemand zu dem Taxifahrer. »Hier ist Ihr Geld.«
Ein Schein wurde hinübergereicht. Yanci sank gegen Scotts Mantel.
Scott wusste Bescheid – er wusste Bescheid, weil er nach Princeton gefahren war, um sie zu überraschen, weil der Fremde, mit dem sie im Ritz gesprochen hatte, sein bester Freund war, weil ihm der Scheck ihres Vaters über dreihundert Dollar mit dem Vermerk »ohne Deckung« zurückgeschickt worden war. Scott wusste Bescheid – schon seit Tagen.
Aber er sagte nichts; stand nur da und hielt sie mit einem Arm fest, während das Taxi davonfuhr.
»Ach, du bist es«, sagte Yanci matt. »Ein Glück, dass du vorbeikommst. Ich habe mein Portemonnaie im Ritz vergessen, ich Esel. Ich stelle so dumme Sachen an…«
Scott lachte amüsiert. Es schneite leicht, und damit sie auf dem feuchten Untergrund nicht ausrutschte, nahm er sie auf den Arm und trug sie zu seinem wartenden Taxi.
»So dumme Sachen«, wiederholte sie.
»Fahren Sie zuerst zum Ritz«, sagte er zu dem Fahrer. »Ich möchte dort einen Koffer abholen.«
Der seltsame Fall des Benjamin Button
I
Anno 1860 pflegte man noch zu Hause geboren zu werden. Neuerdings haben die Hochgötter der Medizin, wie ich höre, verfügt, dass die lieben Kleinen ihre ersten Schreie in der äthergeschwängerten Luft einer Klinik von sich zu geben hätten, vorzugsweise einer Klinik à la mode. Die jungen Eheleute Mr. und Mrs. Roger Button waren also ihrer Zeit um fünfzig Jahre voraus, als sie eines schönen Tages im Sommer 1860 beschlossen, ihr erstes Baby in einer Klinik zur Welt kommen zu lassen. Ob dieser Anachronismus die erstaunliche Geschichte, die ich hier niederschreiben will, in irgendeiner Form beeinflusst hat, das werden wir wohl nie erfahren.
Doch lassen Sie mich erzählen, was geschah, und urteilen Sie selbst.
Die Buttons befanden sich seinerzeit, das heißt in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, nicht nur hinsichtlich ihrer Stellung in der besseren Gesellschaft von Baltimore, sondern auch im Hinblick auf ihre finanziellen Verhältnisse in einer beneidenswerten Lage. Sie waren sowohl mit den Sowiesos als auch mit den Soundsos verwandt und durften sich deshalb, wie jeder Südstaatler weiß, zu jenem ungemein zahlreichen Adelsstand zählen, der damals die Konföderation bevölkerte. Und dies war nun ihre erste Erfahrung mit dem entzückenden alten Brauch, Babys zu bekommen – Mr. Button war natürlich sehr aufgeregt. Er hoffte, es werde ein Junge werden, den man nach Connecticut aufs Yale College schicken könne, das nämliche Institut, an welchem er selber vier Jahre lang unter dem in Anbetracht seines Nachnamens doch wohl ein wenig platten Spitznamen »Cuff«, also Manschettenknopf, bekannt gewesen war.
Nervös erhob er sich an dem für das große Ereignis vorherbestimmten Septembermorgen um sechs Uhr in der Frühe, kleidete sich an, rückte seine tadellos sitzende Halsbinde zurecht und eilte durch die Straßen von Baltimore der Klinik entgegen,
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