Winterträume
groteskes Bild: Er sah sich mitten im dichtesten Großstadtgewimmel durch die Straßen gehen, derweil neben ihm dieses grausige Gespenst einhertrottete.
»Das kann ich nicht. Ich kann das nicht«, stöhnte er.
Die Leute würden stehenbleiben und ihn ansprechen, und was sollte er dann sagen? Er würde ihn vorstellen müssen, diesen – diesen Greis von siebzig Jahren: »Das ist mein Sohn, heut früh geboren.« Und der Alte würde sich darauf noch fester in seine Decke wickeln, und sie würden weiterstapfen, vorbei an den Geschäften, in denen reges Treiben herrschte, vorbei am Sklavenmarkt – einen finsteren Moment lang wünschte sich Mr. Button inbrünstig, sein Sohn wäre schwarz –, vorbei an den luxuriösen Häusern des Wohnviertels, vorbei am Altenstift…
»Kommen Sie! Reißen Sie sich zusammen!«, herrschte die Schwester ihn an.
»Hört mal«, erklärte der Alte plötzlich, »wenn ihr glaubt, dass ich in dieser Decke hier nach Hause spaziere, dann habt ihr euch aber geschnitten.«
»Babys haben doch immer eine Decke.«
Darauf hielt der Alte mit boshaftem Gekicher ein kleines weißes Steckkissen in die Höhe. »Schau mal«, quäkte er, »in dieses Ding hier wollten sie mich stecken!«
»So etwas haben Babys doch immer an«, sagte die Schwester spröde.
»Und dieses Baby hier«, entgegnete der Alte, »das wird in zirka zwei Minuten überhaupt nichts mehr anhaben. Die Decke kratzt nämlich. Wenn sie mir wenigstens ein Betttuch gegeben hätten.«
»Anbehalten! Bitte anbehalten!«, rief Mr. Button hastig. Und an die Schwester gewandt, fuhr er fort: »Und was soll ich jetzt machen?«
»Gehen Sie hinunter in die Stadt und kaufen Sie Ihrem Sohn etwas zum Anziehen.«
Die Stimme seines Sohnes verfolgte Mr. Button bis in den Flur: »Und einen Krückstock, Vater. Ich will einen Krückstock haben.«
Mit einem lauten, wütenden Knall warf Mr. Button die Eingangstür hinter sich ins Schloss.
II
»Guten Morgen«, sagte Mr. Button nervös zu dem Verkäufer in Chesapeakes Textilgeschäft. »Ich möchte meinem Kind etwas zum Anziehen kaufen.«
»Wie alt ist denn Ihr Kind, Sir?«
»Ungefähr sechs Stunden«, antwortete Mr. Button, ohne sich recht bedacht zu haben.
»Babybedarf befindet sich im hinteren Bereich.«
»Also, ich glaube nicht – ich weiß nicht, ob das das Richtige ist. Es – er ist ein ungewöhnlich groß geratenes Kind. Ganz außerordentlich – ähm, groß.«
»Dort gibt es auch die größten Säuglingsgrößen.«
»Wo ist denn die Knabenabteilung?«, schwenkte Mr. Button verzweifelt um. Er hätte schwören können, dass der Verkäufer sein schmähliches Geheimnis längst gewittert hatte.
»Gleich hier.«
»Nun ja…« Er zögerte. Seinen Sohn wie einen erwachsenen Mann zu kleiden ging ihm gegen den Strich. Angenommen, er fände einen sehr großen Knabenanzug, schnitte dem Buben diesen widerlichen langen Bart ab und färbte ihm die weißen Haare braun – so ließe sich womöglich das Allerschlimmste verbergen und zumindest ein Rest an Selbstachtung bewahren, und was seine Stellung in der besseren Gesellschaft von Baltimore betraf…
Aber eine hektische Durchsicht der Knabenabteilung förderte keine Anzüge zutage, die dem neugeborenen Button gepasst hätten. Natürlich gab Mr. Button dem Geschäft die Schuld – in Fällen wie diesem ist es allemal angebracht, dem Geschäft die Schuld zu geben.
»Was sagten Sie noch mal, wie alt Ihr Junge ist?«, fragte der Verkäufer beflissen nach.
»Er ist – sechzehn.«
»Oh, verzeihen Sie bitte. Ich hatte gemeint, Sie hätten sechs Stunden gesagt. Die Burschenabteilung ist einen Gang weiter.«
Verzagt drehte sich Mr. Button um. Doch plötzlich blieb er stehen, seine Miene hellte sich auf, und er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Schaufensterpuppe. »Da!«, rief er. »Der Anzug, den die Puppe dort im Fenster trägt, den nehme ich.«
Verdutzt guckte ihn der Verkäufer an. »Aber das ist kein Kinderanzug«, wandte er ein, »na ja, eigentlich doch, aber nur als Verkleidung. Den könnten Sie selber tragen!«
»Nun packen Sie ihn schon ein«, beharrte der Kunde gereizt. »Genau so etwas habe ich gesucht.«
Der erstaunte Verkäufer tat wie ihm geheißen.
Wieder zurück in der Klinik, betrat Mr. Button die Säuglingsstation und schmiss seinem Sohn das Paket geradezu hin. »Hier, deine Sachen«, schnauzte er.
Der Alte wickelte den Anzug aus und betrachtete ihn skeptisch.
»Sieht irgendwie komisch aus«, nörgelte er, »ich will
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