Winterträume
Dunst. Hildegarde gewährte ihm noch zwei weitere Tänze, und sie entdeckten, dass sie sich in allen Tagesfragen wunderbar einig waren. Am kommenden Sonntag wollten sie gemeinsam eine Ausfahrt machen, und dann würden sie ihr Gespräch über all diese Fragen fortsetzen.
Als sie schließlich in ihrem Zweispänner heimfuhren – der Morgen graute schon, die ersten Bienen summten, und im kühlen Tau glitzerte der verblassende Mond –, nahm Benjamin wie aus weiter Ferne wahr, dass sein Vater über den Eisenwarengroßhandel redete.
»…Und worauf sollten wir nun deiner Meinung nach unser Hauptaugenmerk richten, mal abgesehen von Hämmern und Nägeln?«, fragte der ältere Button.
»Die Liebe«, erwiderte Benjamin zerstreut.
»Getriebe?«, rief Roger Button aus. »Aber über Getriebe habe ich doch gerade lang und breit gesprochen.«
Benjamin sah ihn mit verhangenen Augen an, und just in dem Moment riss im Osten der Himmel auf, es wurde hell, und in den neu zum Leben erwachenden Bäumen ließ ein Pirol sein durchdringendes Gähnen vernehmen…
VI
Als ein halbes Jahr später die Verlobung von Miss Hildegarde Moncrief mit Mr. Benjamin Button bekannt wurde (ich sage »bekannt wurde«, denn General Moncrief hatte erklärt, er werde sich lieber in sein Schwert stürzen, als das Ereignis öffentlich zu verkünden), geriet die bessere Gesellschaft von Baltimore darob in geradezu fieberhafte Aufregung. Man erinnerte sich wieder der fast vergessenen Geschichte von Benjamins Geburt, und auf den Schwingen des Skandals machte die Sache überall die Runde und nahm dabei die unglaublichsten Formen an, bis hin zum reinsten Schelmenroman. So wurde zum Beispiel behauptet, dass Benjamin in Wahrheit Roger Buttons Vater sei, dass er sein Bruder sei, der vierzig Jahre im Gefängnis gesessen habe, dass er sich bloß für jemand anders ausgebe, in Wirklichkeit aber sei er John Wilkes Booth, der Mörder von Abraham Lincoln – und schließlich hieß es gar, es sprössen ihm zwei kleine krumme Hörner aus dem Kopfe.
Die Sonntagsbeilagen der New Yorker Zeitungen spielten den Fall noch zusätzlich hoch, indem sie faszinierende Zeichnungen brachten, auf denen man Benjamin Buttons Kopf mal einem Fisch, mal einer Schlange und einmal sogar einem Körper aus solidem Messing aufgesetzt hatte. In der Presse wurde er als »Der Große Unbekannte von Maryland« berühmt. Die wahre Geschichte aber fand, wie üblich, nur eine sehr geringe Verbreitung.
Doch war man sich allgemein mit General Moncrief darin einig, dass es »ein Verbrechen« sei, wenn ein so entzückendes Mädchen, das doch jeden Beau von Baltimore hätte heiraten können, sich einem Manne an den Hals warf, der garantiert schon fünfzig war. Da half es auch nichts, dass Mr. Roger Button die Geburtsurkunde seines Sohnes in fetten Lettern im Baltimore Blaze veröffentlichen ließ. Keiner glaubte ihm. Schließlich brauchte man sich Benjamin ja nur anzuschauen, dann war man schon im Bilde.
Die beiden Hauptbeteiligten ließen sich nicht beirren. Angesichts so vieler falscher Geschichten, die über ihren Bräutigam im Umlauf waren, weigerte Hildegarde sich standhaft, selbst der einzigen, die doch der Wahrheit entsprach, Glauben zu schenken. Vergebens führte General Moncrief ihr die hohe Sterblichkeit unter fünfzigjährigen Männern – oder zumindest unter solchen, die wie fünfzig aussahen – vor Augen; vergebens erzählte er ihr, was für ein unsicheres Geschäft der Eisenwarengroßhandel sei. Hildegarde war fest entschlossen, die Reife zu heiraten, und genau das tat sie denn auch…
VII
In einem Punkt zumindest irrten sich die Freunde von Hildegarde Moncrief. Der Eisenwarengroßhandel florierte ganz erstaunlich. In den fünfzehn Jahren zwischen Benjamin Buttons Heirat anno 1880 und dem Rückzug seines Vaters aus der Firma anno 1895 verdoppelte sich das Vermögen der Familie, was größtenteils dem jüngeren Teilhaber des Unternehmens zu verdanken war.
Es erübrigt sich zu sagen, dass Baltimore das Paar zu guter Letzt mit offenen Armen aufnahm. Und als Benjamin dem alten General Moncrief das nötige Geld gab, damit der seine bis dato von neun bekannten Verlagshäusern abgelehnte zwanzigbändige Geschichte des Bürgerkriegs drucken lassen konnte, da versöhnte sich sogar Hildegardes Vater mit seinem Schwiegersohn.
Mit Benjamin selbst waren in diesen fünfzehn Jahren eine Menge Veränderungen vor sich gegangen. Es war, als ob das Blut mit neuer Kraft durch seine Adern
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