Winterträume
Einfluss jenes grotesken Phänomens, das seiner Geburt anhaftete, werde sich legen, sobald sein Körper einmal das Alter erlangt hätte, das seinen Jahren entsprach. Ihm schauderte. Sein Schicksal kam ihm schrecklich vor, unfassbar.
Er ging wieder hinunter, wo Hildegarde schon auf ihn wartete. Sie schien verärgert zu sein, und er fragte sich, ob ihr wohl endlich aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte. Als er die Angelegenheit beim Abendessen zur Sprache brachte, und zwar auf eine, wie er meinte, taktvolle Art und Weise, tat er es in dem Bemühen, die zwischen ihnen bestehenden Spannungen zu mildern.
»Nun ja«, bemerkte er leichthin, »alle sagen, ich sehe jünger aus als je zuvor.«
Hildegarde sah ihn höhnisch an. »Ach, und nun meinst du, du müsstest dich damit brüsten?«, schnob sie.
»Ich brüste mich doch gar nicht«, widersprach er befangen.
Sie schnob abermals. »Allein der Gedanke«, sagte sie, und ein paar Sekunden später fuhr sie fort: »Ich habe geglaubt, du hättest genügend Stolz im Leibe, um endlich damit aufzuhören.«
»Aber wie soll ich denn das machen?«, fragte er.
»Ich werde mich nicht mit dir streiten«, gab sie zurück. »Aber man kann die Dinge entweder auf die richtige oder auf die falsche Art tun. Wenn du beschlossen hast, dass du anders sein willst als alle anderen, dann werde ich dich kaum daran hindern können, ich finde das allerdings nicht gerade rücksichtsvoll von dir.«
»Aber Hildegarde, ich kann nichts dagegen tun.«
»Das kannst du wohl. Du bist einfach nur verbohrt. Du bist der Meinung, dass du nicht sein willst wie jeder andere. Das war bei dir schon immer so und wird auch immer so bleiben. Aber stell dir doch bloß einmal vor, wie es wäre, wenn alle anderen die Dinge genauso sehen würden wie du – was meinst du wohl, wie dann die Welt aussähe?«
Das war ein törichtes Argument, auf das es nichts zu erwidern gab, weshalb ihr Benjamin die Antwort schuldig blieb, und von da an wurde die Kluft zwischen ihnen immer tiefer. Er fragte sich, wie es nur möglich war, dass sie ihn einst so sehr bezaubert hatte.
Was den Bruch noch zusätzlich verschlimmerte, war die Tatsache, dass Benjamin immer vergnügungssüchtiger wurde, je näher das neue Jahrhundert heranrückte. In ganz Baltimore gab es kein Fest, gleich welcher Art, bei dem er nicht zugegen war, mit den hübschesten verheirateten jungen Frauen tanzte, mit den am dichtesten umschwärmten Debütantinnen plauderte und ihre charmante Gesellschaft genoss, derweil seine Gattin wie eine unheilschwangere Witwe zwischen den Anstandsdamen saß und bald mit hochmütig-tadelnder Miene, bald mit düster-verwundertem und vorwurfsvollem Blick seinem Treiben folgte.
»Seht nur!«, tuschelten die Leute. »Was für ein Jammer! Ein junger Kerl in seinem Alter und ist an eine Fünfundvierzigjährige gefesselt. Der ist doch sicher zwanzig Jahre jünger als die Frau.« Sie hatten bereits vergessen – wie Menschen nun einmal unweigerlich alles vergessen –, dass sich ihre Mamas und Papas schon anno 1880 über just das nämliche ungleiche Paar die Mäuler zerrissen hatten.
Benjamins zunehmendes häusliches Unbehagen wurde durch seine vielen neuen Interessen aufgewogen. Er begann Golf zu spielen, und das mit großem Erfolg. Tanzen war seine Leidenschaft: 1906 tanzte er den »Boston« wie kein Zweiter, 1908 legte er einen meisterhaften »Maxixe« aufs Parkett, und 1909 beneidete ihn jeder junge Mann in Baltimore um seinen »Castle Walk«.
Natürlich wirkte sich seine gesellschaftliche Betriebsamkeit bis zu einem gewissen Grade negativ auf das Geschäft aus, doch andererseits hatte er fünfundzwanzig Jahre lang hart im Eisenwarengroßhandel gearbeitet und war nun ohnedies entschlossen, die Geschicke der Firma demnächst in die Hände seines Sohnes Roscoe zu legen, der jüngst sein Studium in Harvard abgeschlossen hatte.
Übrigens wurde er häufig mit seinem Sohn verwechselt. Das gefiel Benjamin, und bald vergaß er die heimtückische Furcht, die ihn damals bei seiner Rückkehr aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg beschlichen hatte, und erfreute sich ganz unbekümmert an seiner äußeren Erscheinung. Es gab nur ein einziges Haar in dieser köstlichen Suppe, und das war, dass er es hasste, sich öffentlich mit seiner Frau zu zeigen. Hildegarde war jetzt fast fünfzig, und er kam sich einfach lächerlich vor an ihrer Seite…
IX
An einem Septembertag des Jahres 1910 – ein paar Jahre nachdem die Firma Roger Button & Co.,
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