Winterträume
die Macht der Gewohnheit, dass sie nicht einmal mehr merkten, wie sehr er sich von anderen Kindern unterschied – außer wenn irgendeine merkwürdige Abweichung ihnen diese Tatsache in Erinnerung rief. Eines Tages aber, ein paar Wochen nach seinem zwölften Geburtstag, machte Benjamin, während er sich im Spiegel betrachtete, eine erstaunliche Entdeckung, oder bildete es sich zumindest ein. Täuschten ihn seine Augen, oder war sein Haar in dem Dutzend Jahren, das er jetzt auf der Welt war, wirklich unter der es überdeckenden künstlichen Farbe von Weiß in Stahlgrau übergegangen? Und waren nicht die Runzeln, die sein Gesicht gleich einem Netz überzogen, weniger tief als sonst? Sah nicht seine Haut gesünder und straffer aus, hatte sie nicht gar einen Hauch von winterlich frischer Röte? Er war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er nicht mehr gebückt ging und seine körperliche Verfassung sich im Vergleich zu seinen frühen Lebensjahren verbessert hatte.
›Kann das denn sein…?‹, dachte er bei sich oder wagte es vielmehr kaum zu denken.
Er ging zu seinem Vater. »Ich bin gewachsen«, verkündete er mit fester Stimme. »Ich möchte ab jetzt lange Hosen tragen.«
Sein Vater zögerte. »Also, ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Von Rechts wegen bekommt man lange Hosen ja mit vierzehn – und du bist doch erst zwölf.«
»Aber du musst zugeben«, widersprach ihm Benjamin, »dass ich groß bin für mein Alter.«
Sein Vater musterte ihn mit gespielter Nachdenklichkeit. »Oh, da bin ich mir gar nicht so sicher«, sagte er. »Ich war mit zwölf genauso groß wie du.«
Das stimmte natürlich nicht, sondern war vielmehr Teil jener stillschweigenden Übereinkunft, die Roger Button mit sich selbst getroffen hatte und die darin bestand, dass er in seinem Sohn einen ganz normalen Jungen sehen wollte.
Zu guter Letzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Benjamin sollte sich weiterhin die Haare färben. Er sollte sich noch mehr Mühe geben, mit Knaben seines Alters zu spielen. Auf der Straße sollte er sich weder mit einer Brille noch mit einem Krückstock zeigen. Und zur Belohnung für diese Zugeständnisse bekam er seinen ersten Anzug mit langen Hosen genehmigt…
IV
Darüber, wie Benjamin Buttons Leben von seinem zwölften bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr verlief, will ich mich hier nicht groß verbreiten. Es mag genügen festzustellen, dass dies Jahre eines regelmäßig verlaufenden Rückwuchses waren. Mit achtzehn war Benjamin kerzengerade wie ein Mann von fünfzig Jahren; sein Haar war dichter und dunkelgrau geworden; sein Schritt war fest, seine Stimme hörte sich nicht mehr brüchig und quäkend an wie früher, sondern hatte an Tiefe gewonnen und sich zu einem kräftigen Bariton entwickelt. Und so schickte ihn sein Vater nach Connecticut, damit er am Yale College das Eingangsexamen ablegte. Benjamin bestand die Prüfung und war nunmehr ein frischgebackener Student.
Drei Tage nach der Immatrikulation erreichte ihn eine Nachricht von Mr. Hart, dem Kanzler der Universität, der ihn bat, zwecks Vereinbarung des Studienplans in seinem Büro vorzusprechen. Benjamin warf einen Blick in den Spiegel und befand, dass sein Haar einer auffrischenden Behandlung mit brauner Farbe bedurfte, musste jedoch, als er daraufhin besorgt seine Schreibtischschublade durchsuchte, feststellen, dass das Fläschchen mit dem Färbemittel nicht da war. Dann fiel ihm ein, dass er es tags zuvor aufgebraucht und weggeworfen hatte.
Nun saß er in der Patsche. In fünf Minuten sollte er beim Kanzler erscheinen. Da half anscheinend alles nichts – er musste hingehen, wie er war. Und das tat er.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn der Kanzler höflich. »Sie sind hier, um sich nach Ihrem Sohn zu erkundigen?«
»Nun ja, also eigentlich – mein Name ist But-ton –«, fing Benjamin an, doch Mr. Hart fiel ihm ins Wort.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Button. Ihr Sohn muss jeden Moment hier sein.«
»Aber das bin doch ich!«, platzte Benjamin heraus. »Ich selber bin der neue Student.«
»Wie bitte!«
»Ja, ich bin der neu immatrikulierte Student.«
»Sie belieben wohl zu scherzen?«
»Keineswegs.«
Der Kanzler runzelte nachdenklich die Stirn und schaute auf die Karte, die vor ihm lag.
»Also, bei mir steht hier, dass Mr. Benjamin Button achtzehn Jahre alt ist.«
»Das bin ich auch«, bestätigte Benjamin, und eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht.
Dem Kanzler wurde die Sache allmählich zu bunt. Er
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