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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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wusste es nicht. Er hörte ein leises Summen, als der Aufzug wieder herauf- und kurz darauf abermals hinunterfuhr. Wahrscheinlich eilte Percy seinem Vater zu Hilfe. John kam der Gedanke, dass dies die Gelegenheit war, Kismine aufzusuchen und auf der Stelle zu fliehen. Nachdem das Geräusch des Aufzugs verklungen war, wartete er einige Minuten. Da die nächtliche Kühle durch seinen nassen Pyjama drang und er zitterte, kehrte er in sein Zimmer zurück und kleidete sich rasch an. Dann stieg er die lange Treppe hinauf und ging auf einem Teppich aus Zobelpelz durch den Korridor, der zu Kismines Suite führte.
    Die Tür zum Salon war offen, und drinnen brannte Licht. Kismine stand in einem Angorakimono am Fenster und schien angestrengt zu lauschen, und als John geräuschlos eintrat, wandte sie sich ihm zu.
    »Ach, du bist es«, flüsterte sie und ging ihm entgegen. »Hast du sie gehört?«
    »Ich habe die Sklaven deines Vaters in meinem –«
    »Nein«, unterbrach sie ihn aufgeregt, »die Flugzeuge!«
    »Flugzeuge? Dann war das vielleicht das Geräusch, das mich geweckt hat.«
    »Mindestens ein Dutzend. Eben habe ich eins gesehen, als es vor dem Mond vorbeiflog. Der Wächter auf dem Grat hat einen Schuss abgefeuert, und das hat Vater aufgeweckt. Wir werden gleich das Feuer auf sie eröffnen.«
    »Führen sie denn etwas im Schilde?«
    »Ja. Dieser Italiener, der geflohen ist –«
    Bei ihrem letzten Wort drang eine Folge scharfer Knalle durch das offene Fenster. Kismine stieß einen kleinen Schrei aus, nahm mit zitternden Fingern einen Penny aus einer Schatulle auf ihrem Frisiertisch und rannte zu einer der elektrischen Lampen. Im nächsten Augenblick erloschen alle Lichter im Château – sie hatte einen Kurzschluss erzeugt.
    »Komm!«, rief sie John zu. »Wir gehen auf den Dachgarten und sehen es uns von dort aus an.«
    Sie legte ein Tuch um die Schultern und nahm seine Hand. Gemeinsam tasteten sie sich zur Tür. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Turmaufzug, und als sie auf den Knopf drückte, so dass sie in rasendem Tempo hinaufbefördert wurden, schloss er sie in der Dunkelheit in die Arme und küsste sie auf den Mund. Endlich erlebte auch John Unger die romantische Liebe. Kurz darauf traten die beiden auf die sternenweiße Terrasse. Unter dem verschleierten Mond glitt ein Dutzend geflügelter, stetig kreisender Schemen durch die Schatten der dahintreibenden Wolken. Von verschiedenen Stellen im Tal sprang Mündungsfeuer zu ihnen empor, gefolgt von scharfen Detonationen. Kismine klatschte vor Freude in die Hände, doch aus ihrem Entzücken wurde gleich darauf Entsetzen, denn auf irgendein verabredetes Zeichen hin begannen die Flugzeuge, Bomben auszuklinken, und das ganze Tal verwandelte sich in ein Panorama aus dumpfen Explosionen und grellen Lichtern.
    Bald konzentrierten sich die Angriffe auf die Stellungen der Flugabwehrkanonen. Eine davon wurde getroffen und war kurz darauf nur noch ein zwischen Rosenbüschen lichterloh brennender Trümmerhaufen.
    »Kismine«, begann John, »du wirst dich freuen zu hören, dass dieser Angriff gerade in dem Augenblick kam, als ich ermordet werden sollte. Wenn der Schuss des Wächters am Pass mich nicht geweckt hätte, wäre ich jetzt mausetot –«
    »Ich kann dich nicht verstehen!«, schrie Kismine, die wie gebannt das Bild betrachtete, das sich ihren Augen bot. »Du musst lauter sprechen!«
    »Ich habe nur gesagt«, rief John, »dass wir schleunigst verschwinden sollten, bevor sie anfangen, das Château zu bombardieren!«
    Plötzlich brach der gesamte Säulengang vor der Behausung der Neger ein, ein Geysir aus Flammen schoss hoch, und riesige Marmorbrocken wurden bis zum Seeufer geschleudert.
    »Das waren Sklaven für fünfzigtausend Dollar!«, rief Kismine. »Wenn man Vorkriegspreise veranschlagt. So viele Amerikaner haben einfach keine Achtung vor dem Eigentum anderer.«
    John versuchte sie noch einmal zur raschen Flucht zu bewegen. Die Bomben der Flugzeuge fielen immer gezielter, und nur zwei Geschütze feuerten noch zurück. Es war offensichtlich, dass sich die Verteidiger nicht mehr lange würden halten können.
    »Komm«, rief John und zog Kismine am Arm, »wir müssen fort! Ist dir nicht klar, dass diese Flieger dich töten werden, wenn sie dich kriegen?«
    Widerstrebend folgte sie ihm.
    »Wir müssen Jasmine wecken«, sagte sie, als sie zum Aufzug eilten. Und dann fügte sie mit geradezu kindlichem Vergnügen hinzu: »Wir werden arm sein, nicht? Wie die Leute

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