Winterträume
in den Büchern. Und ich werde eine Waise sein und ganz und gar frei. Frei und arm! Das wird ein Spaß!« Sie blieb stehen und hob ihm ihre Lippen zu einem entzückten Kuss entgegen.
»Beides zusammen geht nicht«, sagte John grimmig. »Das ist erwiesen. Und ich würde die Freiheit der Armut vorziehen. Für alle Fälle empfehle ich dir, den Inhalt deiner Schmuckschatulle einzustecken.«
Zehn Minuten später trafen die beiden Mädchen John im dunklen Korridor und stiegen die Treppe hinab ins Erdgeschoss des Châteaus. Zum letzten Mal gingen sie durch die Pracht der herrlichen Hallen. Auf der Terrasse blieben sie einen Augenblick lang stehen und betrachteten die brennenden Unterkünfte der Neger und die glühenden Überreste zweier abgestürzter Flugzeuge auf der anderen Seite des Sees. Eine einzelne Flugabwehrkanone feuerte noch regelmäßig, und die Angreifer schienen nicht tiefer gehen zu wollen, kreisten die Stellung aber mit ihren Bomben ein. Irgendwann würde ein Zufallstreffer ihre schwarze Besatzung töten.
John und die beiden Schwestern eilten die Marmorstufen hinunter, wandten sich dann scharf nach links und folgten einem schmalen, ansteigenden Pfad, der sich wie ein Strumpfband an den Diamantberg schmiegte. Kismine kannte eine dichtbewaldete Stelle auf halber Höhe des Berges, wo sie sich verbergen und dennoch die Ereignisse dieser aufregenden Nacht verfolgen konnten – und von dort würden sie, sollte es sich als nötig erweisen, auf einem geheimen Weg durch ein steiniges Bachbett aus dem Tal fliehen können.
X
Als sie ihr Ziel erreichten, war es drei Uhr. Die fügsame, phlegmatische Jasmine schlief, an den Stamm eines großen Baumes gelehnt, auf der Stelle ein, während John seinen Arm um Kismine legte und sie sich gemeinsam setzten, um dem verzweifelten Aufflackern der längst entschiedenen Schlacht zuzusehen, die ein am Morgen noch blühendes Tal in Schutt und Asche gelegt hatte. Kurz nach vier gab das letzte noch feuernde Geschütz einen lauten, scheppernden Knall von sich, stieß eine Wolke aus rötlichem Rauch aus und verstummte. Obgleich der Mond inzwischen untergegangen war, sahen die beiden, dass die Flugzeuge nun tiefer kreisten. Sobald die Piloten sich davon überzeugt hatten, dass man keine Gegenwehr mehr leistete, würden sie landen, und die funkelnde, finstere Herrschaft der Washingtons würde beendet sein.
Nun, da das Feuer eingestellt war, wurde es still im Tal. Die Trümmer der beiden abgeschossenen Flugzeuge glühten wie die Augen eines Ungeheuers, das sich unter der schimmernden Oberfläche des Sees duckte. Das Château stand still und dunkel da und war unbeleuchtet ebenso schön wie in hellem Sonnenschein. Das Schnarren der Nemesis erfüllte die Luft mit einer an- und abschwellenden Klage. John stellte fest, dass Kismine ebenfalls eingeschlafen war.
Vier Uhr war längst vorüber, als er Schritte auf dem Weg hörte, den sie genommen hatten, und er hielt den Atem an, bis die Menschen, die diese Geräusche verursachten, an dem Aussichtspunkt, wo er saß, vorbeigegangen waren. Es lag eine leise Regung nichtmenschlichen Ursprungs in der Luft, und der Tau war kühl; John wusste, dass der Tag bald anbrechen würde. Er wartete, bis die Schritte sich weit genug den Berg hinauf entfernt hatten und nicht mehr zu hören waren, dann folgte er ihnen. Etwa auf halbem Weg zum schroffen Gipfel lichtete sich der Wald. Hier lag ein Sattel aus hartem Fels über dem Diamanten. Kurz bevor er diese Stelle erreicht hatte, verlangsamte John seine Schritte, denn er spürte mit dem Instinkt eines Tieres, dass sich irgendwo vor ihm andere Lebewesen befanden. Vorsichtig spähte er über einen großen Felsen. Seine Neugier wurde belohnt.
Braddock Washington stand reglos, wortlos da – seine Silhouette zeichnete sich gegen den grauen Himmel ab. Als sich der Horizont im Osten aufhellte und die Erde in ein kaltes, grünes Licht tauchte, wirkte die einsame Gestalt immer kleiner und unbedeutender vor der Größe des neuen Tages.
Johns Gastgeber war in unergründliche Gedanken versunken, dann gab er den beiden Negern, die zu seinen Füßen kauerten, ein Zeichen, die Last anzuheben, die zwischen ihnen lag. Als sie sich mühsam aufrichteten, fiel ein erster gelber Sonnenstrahl auf die zahllosen Facetten eines riesigen, perfekt geschliffenen Diamanten und erweckte den Stein zu einem gleißenden Funkeln, als wäre er ein Fragment des Morgensterns. Sein Gewicht ließ die Träger kurz taumeln, doch dann spannten
Weitere Kostenlose Bücher