Winterträume
seinen Sohn. »Red gefälligst nicht solchen Blödsinn daher! Du wirst hier leben, verstehst du mich? Hier! Ein Heim ohne Kinder – was ist das schon?!«
»Aber, Vater…«
In seiner Erregung erhob sich Mr. Whitney. Eine schwache, unnatürliche Röte überzog langsam sein fahles Gesicht.
»Still!«, kreischte er. »Wenn du auch nur die geringste Unterstützung von mir erwartest – unter meinem Dach kannst du sie haben, aber nirgendwo sonst! Ist das klar? Und was Sie betrifft, meine bezaubernde junge Dame«, fuhr er fort und ließ seinen zitternden Finger in Myras Richtung wandern, »Sie merken sich besser ein für alle Mal, dass es das Beste ist, wenn Sie sich dazu entschließen, für immer hier zu wohnen. Das ist mein Heim, und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt!«
Einen Augenblick lang blieb er auf den Zehenspitzen stehen und schoss wütende Blicke auf die beiden ab; dann plötzlich drehte er sich um und verließ mit großen Sprüngen den Raum.
»Also«, keuchte Myra und wandte sich verblüfft zu Knowleton, »was sagt man dazu!«
III
Einige Stunden später kroch sie in großer Unruhe und Unzufriedenheit ins Bett. Eines wusste sie genau – sie würde nie in diesem Haus wohnen. Knowleton musste seinen Vater so weit zur Vernunft bringen, dass er ihnen ein Apartment in der Stadt bewilligte. Der fahle kleine Mann machte sie nervös; sie war sicher, dass Mrs. Whitneys Hunde ihr Alpträume verursachen würden; außerdem war ihr eine allgemeine Nachlässigkeit aufgefallen – bei dem Chauffeur, dem Butler, den Hausmädchen und sogar bei den Gästen, die sie an diesem Abend getroffen hatte –, die ihrer Auffassung vom Stil eines großen Anwesens nicht im Entferntesten entsprach.
Sie lag vielleicht eine Stunde so da, als sie von einem spitzen Schrei, der aus dem Nebenraum zu kommen schien, aus ihrer trägen Träumerei aufgeschreckt wurde. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte. Nach einer Minute schrie wieder jemand. Es klang genau wie das klagende Weinen eines müden Kindes, das von einer Hand auf seinem Mund abrupt zum Schweigen gebracht wird. In der dunklen Stille verwandelte sich ihre Verwirrung nach und nach in tiefe Unruhe. Sie wartete ab, ob der Schrei sich noch einmal wiederholen würde, aber obwohl sie angestrengt die Ohren spitzte, hörte sie nichts außer der erdrückenden, dichten Stille von drei Uhr morgens. Sie fragte sich, wo Knowleton schlief, erinnerte sich dann, dass sein Schlafzimmer drüben im anderen Flügel gleich hinter dem seiner Mutter lag. Sie war allein hier – oder nicht?
Mit einem kleinen Keuchen glitt sie wieder unter die Decke und blieb lauschend liegen. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit gefürchtet, doch die unvorhergesehene Anwesenheit eines Menschen im Zimmer nebenan erschreckte sie, ließ ihre Phantasie durch ein ganzes Arsenal von Kriminalgeschichten rasen, mit denen sie sich dann und wann an langen Nachmittagen die Zeit vertrieben hatte.
Sie hörte, wie die Uhr viermal schlug. Sie war entsetzlich müde. Ein Vorhang senkte sich langsam vor ihre Phantasie, und nachdem sie sich auf die andere Seite gerollt hatte, schlief sie plötzlich ein.
Am nächsten Morgen, als sie mit Knowleton zwischen glitzernd rauhreifbedeckten Büschen in einem der kahlen Gärten spazieren ging, fühlte sie sich zunehmend beschwingt und wunderte sich über ihre Bedrücktheit in der vergangenen Nacht. Wahrscheinlich machten alle Familien einen etwas eigenartigen Eindruck, wenn man sie aus einem so persönlichen Grund zum ersten Mal besuchte. Dennoch: Ihr Entschluss, mit Knowleton in einem anderen Haus zu leben als die weißen Hunde und der zappelige kleine Mann, blieb unvermindert fest. Und wenn das frostige Völkchen, das sie bei der Party am Vorabend kennengelernt hatte, typisch war für die bessere Gesellschaft von Westchester County…
»Meine Familie«, sagte Knowleton, »muss reichlich ungewöhnlich wirken. Ich bin wohl in einer eher merkwürdigen Atmosphäre aufgewachsen, aber abgesehen von ihrer Vorliebe für Pudel ist Mutter im Grunde ganz normal, und Vater scheint seine Position in der Wall Street trotz seiner exzentrischen Angewohnheiten sicher zu halten.«
»Knowleton«, fragte sie unvermittelt, »wer wohnt im Zimmer neben mir?«
Zuckte er zusammen und errötete leicht – oder bildete sie sich das nur ein?
»Weil«, fuhr sie bedächtig fort, »ich fast sicher bin, dass ich in der Nacht da jemanden weinen gehört habe. Es klang wie ein
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