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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie lächelte strahlend, nickte dem Kapellmeister zu und begann, mit ihrem hellen, klaren Alt die erste Strophe zu singen.
    Während sie sang, ergriff allmählich eine leichtsinnig ironische Stimmung von ihr Besitz – sie bekam Lust darauf, denen da unten für ihr Geld etwas zu bieten. Und das tat sie. Sie gab jedem Slangausdruck den passenden näselnden, heiseren Tonfall; sie ließ die Hüften im Rhythmus wackeln und schwingen; sie zeigte einen Revue-Tanzschritt, den sie einmal für die Laienaufführung eines Musicals gelernt hatte; schließlich beendete sie ihre Darbietung aus einer wilden Eingebung heraus in typischer Al-Jolson-Pose: auf den Knien, die Arme ihrem Publikum entgegengestreckt, eine synkopierte Bitte um Beifall.
    Dann stand sie auf, verbeugte sich und verließ die Bühne.
    Einen Augenblick lang herrschte Stille, kalte Grabesstille, dann schloss sich vielleicht ein halbes Dutzend Hände zu einem schwachen Pro-Forma-Applaus zusammen, der schon nach einer Sekunde wieder erstarb.
    ›Großer Gott!‹, dachte Myra. ›War es wirklich so schlecht? Oder hab ich sie schockiert?‹
    Mr. Whitney indessen schien entzückt. Er erwartete sie hinter den Kulissen, ergriff ihre Hand und schüttelte sie enthusiastisch.
    »Ganz wunderbar!«, kicherte er. »Sie sind eine hinreißende kleine Schauspielerin – und Sie werden eine wertvolle Bereicherung für unsere kleinen Theaterstücke sein. Möchten Sie eine Zugabe geben?«
    »Nein«, antwortete Myra kurz und wandte sich ab.
    In einer dunklen Ecke wartete sie, bis die Menge den Saal verlassen hatte, erfüllt von wütendem Unwillen, diesen Leuten jetzt gegenüberzutreten, nachdem sie gerade eben ihre Leistung abgelehnt hatten.
    Als der Ballsaal ganz leer war, ging sie langsam die Treppehinauf. Oben standen Knowleton und Mr. Whitney allein im dunklen Korridor, offensichtlich in ein hitziges Streitgespräch verwickelt.
    Bei Myras Erscheinen unterbrachen sie sich und sahen ihr ungeduldig entgegen.
    »Myra«, sagte Mr. Whitney, »Knowleton möchte mit Ihnen sprechen.«
    »Vater«, sagte Knowleton gepresst, »ich bitte dich…«
    »Ruhe!«, rief sein Vater mit gereizt ansteigender Stimme. »Du wirst deine Pflicht tun – und zwar sofort.«
    Knowleton warf ihm noch einen flehenden Blick zu, aber Mr. Whitney schüttelte nur erregt den Kopf, drehte sich um und verschwand wie eine Geistererscheinung eine Treppe höher.
    Knowleton stand einen Moment schweigend da, doch schließlich ergriff er mit einem Ausdruck verbissener Entschlossenheit ihre Hand und führte sie zu einem Raum am Ende des Korridors. Das gelbe Licht fiel hinter ihnen durch die Tür, und sie fand sich in einem dunklen, geräumigen Zimmer wieder, in dem sie gerade noch große quadratische Umrisse an den Wänden ausmachen konnte, die sie für Bilderrahmen hielt. Knowleton drückte einen Knopf, und augenblicklich erwachten vierzig Porträts zum Leben – Kavaliere aus der Kolonialzeit, Damen mit Gainsborough-Schlapphüten, dicke Frauen mit Halskrausen und sanften, gefalteten Händen.
    Sie sah Knowleton mit fragendem Blick an, aber er führte sie zu einer Reihe von Bildern an der Seitenwand.
    »Myra«, sagte er langsam und mühevoll, »da gibt es etwas, was ich dir sagen muss. Das da«, er wies mit seiner Hand auf die Gemälde, »sind Familienporträts.«
    Es waren insgesamt sieben – drei Männer und drei Frauen, allesamt aus der Zeit kurz vor dem Bürgerkrieg. Eines in der Mitte jedoch war von karmesinroten Samtvorhängen verdeckt.
    »Es mag wie ein Scherz klingen«, fuhr er mit fester Stimme fort, »aber dieses Bild stellt meine Urgroßmutter dar.«
    Er streckte eine Hand aus, zog an einer kleinen Seidenkordel, die Vorhänge teilten sich und gaben den Blick frei auf das Porträt einer Frau, die zwar europäisch gekleidet war, aber unverkennbar die Züge einer Chinesin besaß.
    »Mein Urgroßvater, musst du wissen, war ein australischer Tee-Importeur. Er traf seine spätere Frau in Hongkong.«
    In Myras Kopf drehte sich alles. Plötzlich sah sie Mr. Whitneys gelbliches Gesicht vor sich, seine charakteristischen Augenbrauen, die winzigen Hände und Füße – sie erinnerte sich an grausige Geschichten, die sie über biologische Rückschläge gehört hatte, über chinesisch aussehende Babys… da durchzuckte sie als letzter Schreckensgedanke die Erinnerung an jenen erstickten Schrei mitten in der Nacht. Sie schnappte nach Luft, ihre Knie schienen unter ihr nachzugeben,

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