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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Kind, Knowleton.«
    »Da drin ist niemand«, antwortete er entschieden. »Das lag entweder an deiner Phantasie, oder du hast irgendwas Falsches gegessen. Oder vielleicht war eines der Mädchen krank.«
    Scheinbar lässig ließ er das Thema fallen und wandte sich einem anderen zu.
    Der Tag verging rasch. Beim Mittagessen schien Mr. Whitney seinen Wutanfall vom vergangenen Abend vergessen zu haben; er war so flattrig aufgeregt wie immer, und wieder hatte Myra das Gefühl, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Sie und Knowleton statteten Mrs. Whitney einen zweiten Besuch ab; auch diesmal erhoben sich die Pudel unruhig, begannen mit ihrem Radau und wurden von der rauhen, kehligen Stimme energisch zur Ordnung gerufen. Die Unterhaltung war kurz und hatte etwas Inquisitorisches an sich. Beendet wurde sie wie beim ersten Mal von den schweren Augenlidern der Dame des Hauses und dem triumphierenden Abschiedskonzert der Hunde.
    Am Abend stellte sich heraus, dass Mr. Whitney darauf bestanden hatte, eine private Varietévorstellung für die Nachbarn zu organisieren. Im Ballsaal war eine Bühne aufgebaut worden, vor der Myra neben Knowleton in der ersten Reihe saß und gespannt die Geschehnisse verfolgte. Zwei dürre, hochnäsige Damen sangen, ein Mann führte einige uralte Kartentricks vor, ein Mädchen imitierte bekannte Persönlichkeiten, und dann tauchte zu Myras Erstaunen Mr. Whitney auf und gab einen recht eindrucksvollen Stepptanz zum Besten. Es war etwas unbeschreiblich Komisches an den Bewegungen des renommierten Financiers, der mit ernster Miene auf seinen winzigen Füßen über die Bühne glitt. Doch er tanzte gut, überraschend geschmeidig, mit spielerischer Leichtigkeit, und erntete einen wahren Beifallssturm.
    Im Halbdunkel wurde sie plötzlich von der Dame zu ihrer Linken angesprochen.
    »Mr. Whitney lässt ausrichten, dass er Sie hinter der Bühne zu sprechen wünscht.«
    Verwirrt erhob sich Myra und stieg die Seitentreppe hoch, die zur erhöhten Plattform führte. Ihr Gastgeber erwartete sie bereits voller Ungeduld.
    »Ah«, gluckste er, »prachtvoll!«
    Er streckte ihr eine Hand entgegen, die sie verwundert ergriff. Bevor sie seine Absicht erraten konnte, stand sie schon – halb geführt, halb gezogen – draußen auf der Bühne. Der Scheinwerfer tauchte sie in gleißendes Licht, das Gemurmel der Unterhaltung im Publikum versiegte. Die Gesichter vor ihr waren farblose Kleckse auf schwarzem Grund, und sie fühlte, wie ihre Ohren glühten, während sie darauf wartete, dass Mr. Whitney zu sprechen begann.
    »Meine Damen und Herren«, sagte er, »die meisten unter Ihnen kennen ja Miss Myra Harper bereits. Sie hatten gestern Abend die Ehre, sie kennenlernen zu dürfen. Sie ist, ich darf Sie dessen versichern, eine bezaubernde junge Frau. Ich weiß, wovon ich spreche: Sie beabsichtigt, die Frau meines Sohnes zu werden.«
    Er hielt inne, nickte und fing an zu klatschen. Das Publikum nahm das Klatschen augenblicklich auf, und Myra stand da, starr vor Angst, so verstört wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
    Die piepsende Stimme fuhr fort: »Miss Harper ist nicht nur schön, sie ist auch begabt. Gestern Abend vertraute sie mir an, dass sie singt. Ich fragte sie, ob sie Arien, Balladen oder Schlager vorziehe, und sie gestand mir, sie neige Letzterem zu. Miss Harper wird uns nun die Freude machen, einen Schlager für uns zu singen.«
    Damit stand Myra allein auf der Bühne, vor Verlegenheit unfähig, sich zu bewegen. Sie bildete sich ein, auf den Gesichtern vor ihr kritische Erwartung zu sehen, Langeweile und ironische Missbilligung. Ein absolut unmögliches Benehmen – man konnte doch einen Gast nicht einfach unvorbereitet in eine solche Lage bringen!
    Nachdem Stille eingekehrt war, erwog sie im ersten Moment noch, mit ein, zwei Worten zu erklären, Mr. Whitney sei einem Missverständnis aufgesessen, aber dann kam ihr ihre Empörung zu Hilfe. Sie warf den Kopf zurück, und diejenigen, die nahe genug vor der Bühne saßen, konnten sehen, wie sich ihre Lippen fest zusammenpressten.
    Sie trat an den vorderen Rand der Bühne und wandte sich knapp an den Chef der Kapelle: »Haben Sie Wave That Wishbone ?«
    »Mal sehn. Ja, haben wir.«
    »Gut. Dann los.«
    Eilig ging sie in Gedanken noch einmal den Text durch, den sie ganz zufällig im letzten Sommer auf einer langweiligen Party gelernt hatte. Es war vielleicht nicht gerade das Lied, das sie normalerweise für ihren ersten öffentlichen Auftritt gewählt hätte,

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