Winterträume
Croûtons, wie man sie in die Suppe tat.
»Hungrig von der Reise!«, rief er voller Anteilnahme. »Armes Mädchen, armes junges Ding, fast am Verhungern!« Dieses letzte Wort stieß er mit solcher Emphase hervor, dass dabei sanft ein bisschen Milch überschwappte.
Myra nahm die Erfrischungen folgsam an. Hungrig war sie zwar nicht, aber er hatte zehn Minuten gebraucht, um sie zu holen, weshalb es ihr unhöflich schien, sie abzulehnen. Während sie geziert an der Milch nippte und einen Croûton aß, überlegte sie unbestimmt, was sie sagen sollte. Mr. Whitney löste jedoch dieses Problem für sie, indem er zum zweiten Mal verschwand – dieses Mal über die breite Treppe, vier Stufen pro Hüpfer –, wobei sein kahler Hinterkopf im Halbdunkel einen Augenblick lang merkwürdig aufleuchtete.
Minuten verstrichen. Myra war hin- und hergerissen zwischen Ärger und Verblüffung darüber, wie sie dazu kam, mitten in dieser riesigen Halle auf einem hohen, unbequemen Sessel zu sitzen und auf Croûtons herumzukauen. Nach welchen gesellschaftlichen Regeln konnte man wohl die Verlobte seines Sohnes so empfangen!
Ihr Herz machte einen erleichterten Sprung, als sie von der Treppe her ein vertrautes Pfeifen vernahm: Knowleton – endlich. Als er sie sah, schnappte er vor Erstaunen nach Luft.
»Myra!«
Vorsichtig stellte sie die Schüssel und das Glas auf dem Teppich ab und erhob sich. Sie lächelte.
»Na so was«, rief er, »mir hat niemand gesagt, dass du hier bist!«
»Dein Vater… hat mich begrüßt.«
»Gütiger! Er muss hinaufgegangen sein und es völlig vergessen haben. Hat er etwa darauf bestanden, dass du dieses Zeug isst? Warum hast du nicht einfach gesagt, du willst nichts davon?«
»Weil… ich weiß nicht.«
»Mach dir wegen Vater keine Gedanken, Schatz. Er ist vergesslich und in einigen Dingen etwas unkonventionell, aber daran wirst du dich gewöhnen.«
Er drückte auf einen Knopf, und ein Butler erschien.
»Zeigen Sie Miss Harper ihr Zimmer, und lassen Sie ihre Reisetasche hinaufbringen – und den Koffer, falls er nicht schon oben ist.« Er wandte sich Myra zu. »Liebes, es tut mir schrecklich leid, dass ich nichts von deiner Ankunft wusste. Musstest du lange warten?«
»Oh, nur ein paar Minuten.«
Es waren mindestens zwanzig gewesen, aber sie versprach sich nichts davon, das sonderlich zu betonen, obwohl sie sich seltsam unbehaglich gefühlt hatte.
Eine halbe Stunde später, als sie gerade die letzte Öse ihres Abendkleides einhakte, klopfte es an die Tür.
»Myra, ich bin’s, Knowleton; wenn du fertig bist, könnten wir vor dem Essen noch kurz zu Mutter hineinschauen.«
Sie warf einen letzten beifälligen Blick auf ihr Spiegelbild, löschte das Licht und ging zu ihm hinaus in den Korridor. Er führte sie einen breiten Gang entlang, der den einen Flügel des Hauses mit dem anderen verband, blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, stieß sie auf und geleitete Myra in das sonderbarste Zimmer, das ihre jungen Augen je erblickt hatten.
Es war ein großes, luxuriöses Boudoir, genau wie die Eingangshalle mit dunkler englischer Eiche getäfelt und von mehreren Lampen in einen weichen, orangefarbenen Schein getaucht, der alle Konturen trüb bernsteinfarben verschwimmen ließ. In einem ausladenden, mit Stapeln von Kissen gepolsterten und einem seltsam gemusterten Seidentuch drapierten Sessel ruhte eine sehr kräftige alte Dame mit schneeweißem Haar und plumpen Gesichtszügen, die den Anschein erweckte, als hätte sie sich schon Jahre nicht mehr von der Stelle gerührt. Sie lag schläfrig in den Kissen, die Augen halb geschlossen; ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich unter ihrem schwarzen Negligé.
Aber es war etwas anderes, was den Raum bemerkenswert machte, und Myra beachtete die Frau kaum, so gefesselt wurde sie von einem anderen Teil ihrer Umgebung. Auf dem Teppich, auf Sesseln und Sofas, auf dem großem Himmelbett und auf der weichen Angorabrücke vor dem Kamin saß, rekelte sich und schlief ein Heer von weißen Pudeln. Es mussten beinah zwei Dutzend Tiere sein, allesamt mit lockigem Fell, das sich vor ihren schmachtenden Augen kräuselte, und breiten gelben Schleifen, die an ihren Hälsen prangten. Als Myra und Knowleton eintraten, wurden die Hunde unruhig; sie hoben einundzwanzig kalte schwarze Nasen in die Luft, und aus einundzwanzig kleinen Kehlen erklang lautes, metallisches Staccatogekläff, bis das ganze Zimmer von einem solchen Radau erfüllt war, dass Myra erschrocken
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