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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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schattige Parkanlagen. Das Gefährt kam ruckartig vor einem mit Steinquadern eingefassten Tor zum Stehen, der Chauffeurssohn stieg nach ihr aus und stieß die Außentür auf.
    »Gehen Sie einfach rein«, gackerte er, und als sie die Türschwelle überschritten hatte, hörte sie, wie er leise die Tür zumachte und sich und die Dunkelheit ausschloss.
    Myra blickte sich um. Sie stand in einer großen, düsteren, mit alter englischer Eiche getäfelten Empfangshalle, spärlich beleuchtet von abgedunkelten Lampen, die sich wie gelbe Leuchtschildkröten in regelmäßigen Abständen an die Wand klammerten. Vor ihr befand sich eine breite Treppe und zu beiden Seiten mehrere Türen, aber es war keinerlei Anzeichen von Leben zu sehen oder zu hören; lähmende Stille schien unaufhörlich aus dem tiefkarmesinroten Teppich aufzusteigen.
    Sie musste eine volle Minute dort gewartet haben, ehe sie das untrügliche Gefühl beschlich, von jemandem beobachtet zu werden. Sie zwang sich dazu, sich gelassen umzudrehen.
    Ein kleiner Mann mit fahlem Gesicht, glatzköpfig und glattrasiert, korrekt gekleidet, in schwarzem Gehrock und weißen Gamaschen, stand wenige Meter von ihr entfernt und betrachtete sie neugierig. Er musste mindestens fünfzig sein, aber er machte, noch ohne sich zu bewegen, einen merkwürdig quirligen Eindruck auf sie – etwas an seiner Haltung ließ vermuten, dass er sie genau in diesem Augenblick angenommen hatte und im nächsten schon wieder verändern würde. Seine winzigen Hände und Füße und der ungewöhnliche Schwung seiner Augenbrauen verliehen seinem Ausdruck etwas leicht Elfenhaftes; für einen Moment war sie auf eine unbestimmte Art überzeugt, ihn schon einmal gesehen zu haben, vor vielen Jahren.
    Eine Minute lang starrten sie sich schweigend an, dann errötete sie leicht und verspürte das Bedürfnis, zu schlucken.
    »Ich nehme an, Sie sind Mr. Whitney.« Sie lächelte schwach und ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin Myra Harper.«
    Er blieb noch eine Weile länger stumm und bewegungslos stehen, und Myra durchfuhr der Gedanke, er könnte taub sein; dann plötzlich erwachte er mit einem Ruck zu bewusstem Leben, genau wie ein mechanisches Spielzeug auf Knopfdruck.
    »Aber natürlich… aber selbstverständlich. Ich weiß… ah!«, rief er aufgeregt, mit hoher Elfenstimme. Dann ging er wie in einer abgeschwächten Form begeisterter Verzückung auf die Zehenspitzen, lächelte ein runzliges Lächeln und trippelte über den dunklen Teppich auf sie zu.
    Sie errötete, wie es sich gehörte. »Es ist reizend von –«
    »Ah!«, fuhr er fort. »Sie müssen müde sein; eine unbequeme, staubige, grässliche Fahrt, ich weiß. Müde und hungrig und durstig, kein Zweifel, kein Zweifel!« Indigniert blickte er um sich. »Das Personal in diesem Hause taugt absolut nichts!«
    Myra wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte, deshalb verzichtete sie auf eine Antwort. Nach einer kurzen geistesabwesenden Pause lief Mr. Whitney mit seiner ungestümen Energie quer durch die Halle und drückte auf einen Knopf; dann kehrte er fast tänzelnd, mit zierlichen, geringschätzigen Gebärden an ihre Seite zurück.
    »Nur eine Minute«, versicherte er ihr, »sechzig Sekunden, bestimmt nicht mehr. Hier!«
    Plötzlich raste er zur Wand hinüber, hob unter einiger Anstrengung einen großen, geschnitzten Louis-quatorze-Sessel hoch und setzte ihn behutsam in der geometrischen Mitte des Teppichs ab.
    »Nehmen Sie Platz, bitte! Setzen Sie sich doch! Ich gehe Ihnen etwas holen. Höchstens sechzig Sekunden.«
    Sie erhob zaghaft Einspruch, aber er wiederholte immer wieder: »Nehmen Sie Platz!«, in so gekränktem und doch hoffnungsvollem Ton, dass Myra sich schließlich setzte. Augenblicklich verschwand ihr Gastgeber.
    Nachdem sie fünf Minuten so dagesessen hatte, überfiel sie ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Das war entschieden die seltsamste Begrüßung, die sie je erlebt hatte – denn obwohl sie irgendwo gelesen hatte, Ludlow Whitney gelte als einer der größten Exzentriker der Finanzwelt, traf es ihren Sinn für Etikette doch ziemlich hart, ein fahles, elfenhaftes Männchen vorzufinden, das tänzelte, anstatt zu gehen. Hoffentlich ging er Knowleton holen! Sie drehte ihre Daumen in endlosen konzentrischen Kreisen.
    Plötzlich fuhr sie erschrocken hoch. Jemand hatte dicht neben ihr gehüstelt – Mr. Whitney war wieder da. In einer Hand hielt er ein Glas Milch, in der anderen eine blaue Rührschüssel voll von solchen

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