Winterträume
hast!«, schluchzte sie. »Der einzige Freund, den ich hatte, der einzige Mensch auf der Welt, der mich genügend mochte, um mich auch zu achten, wird von meinem Gatten in meinem eigenen Haus beleidigt.«
Sie warf sich auf das Sofa und weinte hemmungslos in die Kissen.
»Er hat es sich selbst zuzuschreiben«, sagte Roger verstockt. »Ich habe so viel hingenommen, wie meine Selbstachtung zuließ. Ich möchte nicht, dass du je wieder mit ihm ausgehst.«
»Ich werde mit ihm ausgehen!«, rief Gretchen in wildem Trotz. »Ich werde so viel mit ihm ausgehen, wie es mir passt. Glaubst du etwa, es ist besonders lustig, hier mit dir zu leben?«
»Gretchen«, sagte er kalt, »steh auf, nimm deinen Hut und Mantel, geh zur Tür hinaus und komm niemals zurück!«
Ihr Unterkiefer senkte sich leicht.
»Ich will aber gar nicht weggehen«, sagte sie beklommen.
»Nun, dann nimm dich auch zusammen.« Und in etwas sanfterem Ton fügte er hinzu: »Ich dachte, du wolltest diese vierzig Tage lang schlafen.«
»O ja«, rief sie bitter, »das sagt sich so leicht! Aber ich habe das Schlafen satt.« Sie stand auf und blickte ihn trotzig an. »Und mehr noch, ich werde morgen mit George Tompkins reiten gehen.«
»Das wirst du nicht, und wenn ich dich mit nach New York nehmen und in meinem Büro einsperren muss, bis ich mit der Arbeit fertig bin.«
Sie blickte ihn voller Zorn an.
»Ich hasse dich«, sagte sie ruhig. »Und ich würde gern alles, was du gemacht hast, nehmen, es zerreißenund ins Feuer werfen. Und nur, damit du morgen etwas zum Nachdenken hast: Ich werde wahrscheinlich nicht da sein, wenn du zurückkommst.«
Sie stand vom Sofa auf und betrachtete ausführlich ihr zorngerötetes, tränenverschmiertes Gesicht im Spiegel. Dann lief sie nach oben und schlug die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Automatisch breitete Roger seine Arbeit auf dem Wohnzimmertisch aus. Die leuchtenden Farben der Zeichnungen, die lebensechten eleganten Damen – für eine von ihnen hatte Gretchen Modell gestanden –, ein Glas Ginger-Ale mit Orange oder eine seidenglänzende Strumpfgarnitur haltend, das lullte ihn in eine Art Dämmerzustand ein. Sein rastloser Stift fuhr hier und da über die Blätter, schob einen Schriftblock um einen Zentimeter nach rechts, probierte ein Dutzend Nuancen für ein kühles Blau aus und tilgte ein Wort, wenn es einen Slogan blutleer und blass erscheinen ließ. Eine halbe Stunde verging – er steckte jetzt tief in seiner Arbeit; kein Laut war im Zimmer zu hören, nur das samtige Kratzgeräusch des Bleistifts auf der glatten Tischplatte.
Nach einer ganzen Weile sah er auf die Uhr – es war nach drei. Draußen war ein Wind aufgekommen und fuhr in heftigen, unheimlichen Stößen um das Haus, es klang wie ein schwerer fallender Körper. Er unterbrach seine Arbeit und horchte. Er war jetzt nicht mehr müde, aber sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit vorquellenden Adern bedeckt wie auf jenen Abbildungen, die in Arztzimmern hängen und auf denen man einen von seiner Haut entblößten Körper sieht. Er fasste sich mit den Händen an den Kopf und betastete ihn überall. Es schien ihm, als fühlten sich seine Schläfenadern rings um eine alte Narbe knotig und spröde an.
Plötzlich wurde ihm angst und bange. An die hundert Warnungen, die er gehört hatte, fuhren ihm durch den Sinn. Menschen konnten sich durch Überarbeitung kaputtmachen, und sein Leib und Hirn waren aus dem gleichen verletzlichen und vergänglichen Stoff. Zum ersten Mal ertappte er sich dabei, dass er George Tompkins um seine ruhigen Nerven und seine gesunde Lebensführung beneidete. Er stand auf und rannte panikartig im Zimmer umher.
»Ich sollte schlafen gehen«, flüsterte er sich eindringlich zu. »Sonst werde ich noch verrückt.«
Er rieb sich die Augen und ging zum Tisch zurück, um seine Arbeiten einzupacken, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum die Tischplatte fassen konnte. Als ein kahler Ast gegen das Fenster schwang, fuhr er mit einem Aufschrei zusammen. Er setzte sich auf das Sofa und versuchte nachzudenken.
»Stopp! Stopp! Stopp!«, tickte die Uhr. »Stopp! Stopp! Stopp!«
»Ich kann nicht aufhören«, sagte er laut. »Ich kann mir nicht leisten aufzuhören.«
Was war das für ein Geräusch? Ja, jetzt war der Wolf an der Tür! Er konnte seine scharfen Krallen auf dem Lackanstrich kratzen hören. Er sprang auf, rannte zur Vordertür und riss sie auf; dann fuhr er mit einem grässlichen Schrei zurück. Ein riesiger Wolf stand
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