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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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musst dich beeilen, Harold«, brachte sie den Satz zu Ende.
    »Warum?«, fragte er, ein wenig ungeduldig. »Du bist ja selbst noch nicht umgezogen, Evie.«
    Er setzte sich in einen Sessel und schlug die Zeitung auf. Ihr sank das Herz: Das würde jetzt mindestens zehn Minuten dauern – und Gedney stand mit angehaltenem Atem im Nebenzimmer. Wenn Harold sich nun, bevor er hinaufging, einen Drink aus der Karaffe auf der Anrichte einschenken wollte… Ihr kam der Gedanke, sie könne dem zuvorkommen, indem sie ihm die Karaffe und ein Glas brachte. Zwar fürchtete sie, dadurch seine Aufmerksamkeit auf das Esszimmer zu lenken, doch das andere Risiko erschien ihr zu groß.
    In diesem Augenblick legte Harold die Zeitung beiseite, stand auf und kam zu ihr.
    »Evie, Liebes«, sagte er, beugte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. »Ich hoffe, du denkst nicht an gestern Nacht…« Sie schmiegte sich zitternd an ihn. »Ich weiß«, fuhr er fort, »was dich betrifft, war es nur eine Freundschaft, die die Grenzen des Erlaubten überschritten hat. Wir alle machen mal einen Fehler.«
    Evylyn hörte ihn kaum. Sie fragte sich, ob sie imstande war, ihn durch ihre Umarmung aus dem Raum und nach oben zu ziehen. Sie erwog, einen Schwächeanfall vorzutäuschen und ihn zu bitten, sie hinaufzutragen, doch leider wusste sie, dass er sie auf das Sofa betten und ihr einen Whiskey bringen würde.
    Plötzlich steigerte sich ihre Anspannung um einen letzten, eigentlich unmöglichen Grad. Sie hatte das leise, aber unverkennbare Knarren einer Diele im Esszimmer gehört. Fred versuchte, sich zur Hintertür hinauszuschleichen.
    Ihr Herz machte einen Satz, als ein dumpfer, an einen Gong gemahnender Ton durch das Haus hallte. Gedneys Arm war an die Kristallschüssel gestoßen.
    »Was war das?«, rief Harold. »Wer ist da?«
    Sie klammerte sich an ihn, aber er riss sich los, und der Raum schien rings um sie einzustürzen. Sie hörte die Tür der Vorratskammer, ein Rumpeln, das Klappern eines Topfes. In blinder Verzweiflung rannte sie in die Küche und zündete die Gaslampe an. Ihr Mann löste seinen Griff um Gedneys Hals und stand reglos da. Die Verwunderung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wich langsam einem Ausdruck von Schmerz.
    »So was!«, sagte er verblüfft und wiederholte es: »So was!«
    Er machte eine Bewegung, als wollte er sich abermals auf Gedney stürzen, hielt jedoch inne, seine Muskeln entspannten sich sichtlich, und schließlich stieß er ein kurzes, bitteres Lachen aus.
    »Ihr… ihr zwei…« Evylyn schlang die Arme um ihn und sah ihn flehend an, doch er schob sie fort und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Sein Gesicht wirkte wie aus Porzellan. »Was sind das für Spielchen, Evylyn? Du kleiner Teufel! Du kleiner Teufel !«
    Er hatte ihr noch nie so leid getan, sie hatte ihn noch nie so sehr geliebt.
    »Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Gedney recht zerknirscht. »Ich bin einfach gekommen.« Doch Piper schüttelte den Kopf, und als er aufsah, war auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als hätte sein Geist aufgrund irgendeines Unfalls zeitweilig aufgehört zu funktionieren. Sein mit einem Mal herzzerreißender Blick schlug eine tief verborgene, bislang stumme Saite in Evylyn an – und zugleich stieg eine wilde Wut in ihr auf. Ihre Augenlider brannten, sie stampfte auf, ihre Hände strichen über den Tisch, als tastete sie nach einer Waffe, und dann stürzte sie sich auf Gedney.
    »Raus!«, schrie sie. Ihre dunklen Augen funkelten, ihre kleinen Fäuste schlugen hilflos auf seinen ausgestreckten Arm ein. »Du bist schuld! Raus hier! Raus! Raus! Raus! «
    II
     
    Die Meinungen über die fünfunddreißigjährige Mrs. Harold Piper waren geteilt: Sie habe sich gut gehalten, sagten die Frauen, während die Männer fanden, sie sei nicht mehr die Hübscheste. Der Grund dafür war vermutlich, dass sich jene Merkmale ihrer Schönheit, die Männer anziehend fanden und Frauen fürchteten, verflüchtigt hatten. Ihre Augen waren so groß und dunkel und traurig wie eh und je, doch sie bargen kein Geheimnis mehr; ihre Traurigkeit war nicht mehr unendlich, sondern nur noch menschlich, und sie hatte die Angewohnheit angenommen, die Augenbrauen zusammenzuziehen und zu blinzeln, wenn sie verblüfft oder verärgert war. Auch ihr Mund hatte sich zum Nachteil verändert: Das Rot der Lippen war verblasst, und der leichte Abwärtsschwung der Mundwinkel beim Lächeln, der die Traurigkeit der Augen unterstrichen und unbestimmt spöttisch und schön

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