Winterträume
gewirkt hatte, war spurlos verschwunden. Wenn sie jetzt lächelte, bogen sich die Mundwinkel nach oben. In jener vergangenen Zeit, als sie ihre Schönheit genossen hatte, war ihr dieses Lächeln leicht über die Lippen gegangen – sie hatte es betont. Als sie aufhörte, es zu betonen, verschwand es und mit ihm Evylyns Geheimnis.
In dem Monat nach dem Ende der Affäre mit Freddy Gedney hatte sie aufgehört, ihr Lächeln zu betonen. Äußerlich ging alles genauso weiter wie zuvor. Doch in den wenigen Minuten, in denen ihr bewusst geworden war, wie sehr sie ihren Mann liebte, hatte sie auch gemerkt, wie unendlich tief sie ihn verletzt hatte. Einen Monat lang kämpfte sie gegen sein quälendes Schweigen, seine bitteren Vorwürfe an – flehend umschmeichelte sie ihn mit stillen kleinen Zärtlichkeiten, über die er nur bitter lachte –, und dann zog auch sie sich nach und nach ins Schweigen zurück, und zwischen ihnen senkte sich eine schattenhafte, unüberwindliche Barriere herab. Die Liebe, die in ihr erwacht war, schenkte sie Donald, ihrem kleinen Sohn, der, wie sie beinahe verwundert feststellte, ein Teil ihres Lebens war.
Im folgenden Jahr brachten gemeinsame Interessen und Verantwortlichkeiten sowie ein leises Aufflackern vergangener Gefühle die beiden wieder zusammen, doch nach einer recht armseligen Aufwallung von Leidenschaft begriff Evylyn, dass ihre große Gelegenheit vorüber war. Es war einfach nichts mehr übrig. Sie hätte genug Jugend und Liebe für sie beide gehabt, doch jene Zeit des Schweigens hatte die Quellen der zärtlichen Zuneigung austrocknen lassen, und ihr Wunsch, aus ihnen zu trinken, war verschwunden.
Zum ersten Mal in ihrem Leben suchte sie Freundinnen, las Bücher, die sie bereits kannte, und setzte sich mit Näharbeiten irgendwohin, wo sie ihre Kinder, die sie vergötterte, im Auge hatte. Sie sorgte sich um Kleinigkeiten – wenn sie auf dem Esstisch Krümel entdeckte, schweiften ihre Gedanken von der Unterhaltung ab: Sie trat langsam ein in die mittleren Jahre des Lebens.
An ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag hatte sie besonders viel zu tun, denn die Pipers hatten für den Abend kurzfristig Gäste eingeladen, und als sie am späten Nachmittag am Schlafzimmerfenster stand, stellte sie fest, dass sie sehr müde war. Zehn Jahre zuvor hätte sie sich hingelegt und etwas geschlafen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, dass die Dinge beaufsichtigt werden mussten: Unten putzten die Dienstmädchen, alles Mögliche lag herum, und gewiss kamen von diversen Lebensmittelläden Lieferanten, denen man nichts durchgehen lassen durfte – und dann musste sie noch einen Brief an Donald schreiben. Er war jetzt vierzehn und in seinem ersten Jahr im Internat.
Dennoch war sie beinahe entschlossen, sich ein wenig auszuruhen, als sie plötzlich von unten Julie schreien hörte. Sie presste die Lippen zusammen, runzelte die Stirn und blinzelte.
»Julie!«, rief sie.
»Auuaa!«, schrie Julie klagend. Dann trieb die Stimme von Hilda, dem zweiten Dienstmädchen, die Treppe herauf.
»Sie hat sich ’n bisschen geschnitten, Mis’ Piper.«
Evylyn rannte zum Nähkorb, kramte ein zerrissenes Taschentuch heraus und eilte die Treppe hinunter. Sekunden später hielt sie die weinende Julie in den Armen und suchte nach dem Schnitt, der schwache, unschöne Spuren auf dem Kleid des Mädchens hinterlassen hatte.
»Mein Daumen! «, schluchzte Julie. »Auu, es tut so weh!«
»Es war die Schüssel, die große«, sagte Hilda entschuldigend. »Ich hatt’ sie auf’n Boden gestellt, als ich die Anrichte geputzt hab, und Julie hat damit rumgespielt, und dabei hat sie sich ’n bisschen geschnitten.«
Evylyn sah Hilda mit gerunzelter Stirn an, zog Julie entschlossen auf ihren Schoß und begann, das Taschentuch in Streifen zu reißen.
»Na, dann lass mal sehen, Schätzchen.«
Julie hielt den Daumen hoch, und Evylyn nahm die Sache in Angriff.
»So!«
Julie musterte den verbundenen Daumen mit zweifelndem Blick. Sie knickte ihn ab, er wackelte. Auf ihrem tränenverschmierten Gesicht erschien ein zufriedener, interessierter Ausdruck. Sie schniefte und wackelte noch einmal mit dem Daumen.
»Mein Schatz! «, rief Evylyn und küsste sie, doch bevor sie hinausging, bedachte sie Hilda erneut mit einem Stirnrunzeln. Verantwortungslos! Aber so war das Personal heutzutage. Wenn sie doch nur eine gute Irin bekommen könnte! Aber man kriegte keine mehr – und diese Schwedinnen…
Um fünf kam Harold nach Hause und hinauf in
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