Winterträume
Sinnestäuschung gewesen war.
»Ist sicher einer von den unseren«, sagte sie lachend.
»Ja, ja, das ist bestimmt ein Südstaatler – bei diesen Hosen«, meinte Harry in boshaftem Ton.
»Wie bitte, Harry?«
Ihr erstaunter Blick schien ihn zu ärgern.
»Diese verdammten Südstaatler!«
Sally Carrols Augen funkelten.
»Nenn sie nie wieder so!«
»Verzeih mir, meine Liebe«, entschuldigte sich Harry scheinheilig, »aber du weißt ja, was ich von diesen Leute halte. Die sind doch alle irgendwie – irgendwie degeneriert, gar nicht mehr so wie die alten Südstaatler. Die leben schon so lange da unten bei dem ganzen farbigen Gesindel, dass sie faul geworden sind und träge.«
»Halt den Mund, Harry!«, rief sie wütend. »Das stimmt nicht! Mag sein, dass sie träge sind – das wird jeder bei dem Klima, das dort unten herrscht –, aber das sind meine besten Freunde, ich will nicht, dass du sie in Bausch und Bogen runtermachst. Ein paar davon sind großartige Menschen, wie’s auf der Welt nicht viele gibt.«
»Oh ja, ich weiß schon. Wenn sie zu uns in den Norden aufs College kommen, sind sie ganz in Ordnung, und ich hab in meinem Leben schon so manchen schlecht gekleideten, verlotterten Galgenvogel gesehen, aber diese Provinzler aus den Südstaaten, das sind die Schlimmsten!«
Sally Carrol ballte die Fäuste in ihren Handschuhen und biss sich vor Zorn auf die Unterlippe.
»Na ja«, fuhr Harry fort, »in New Haven hatte ich einen in der Klasse, bei dem dachten wir alle, wir hätten endlich einen waschechten Südstaatenaristokraten gefunden, und dann stellt sich heraus, der Kerl ist gar kein Aristokrat, sondern einfach bloß der Sohn von einem schnöden Spekulanten, dem sämtliche Baumwollfelder im Umkreis von Mobile gehörten.«
»So wie du hier redest«, sagte sie in ruhigem Ton, »so würde ein Südstaatler niemals reden.«
»Denen fehlt eben die nötige Energie!«
»Oder etwas anderes.«
»Entschuldige bitte, Sally Carrol, aber ich hab doch selbst gehört, wie du gesagt hast, du würdest nie und nimmer einen Südstaatler hei–«
»Aber das ist doch ganz was anderes. Ich hab dir gesagt, dass ich mich nicht fürs ganze Leben an einen von den Jungs da unten aus der Gegend rund um Tarleton binden möchte, aber die Dinge derart in Bausch und Bogen zu verallgemeinern, das hab ich nie getan.«
Sie gingen schweigend nebeneinanderher.
»Ich hab vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragen, Sally Carrol. Entschuldige bitte.«
Sie nickte, sagte aber nichts. Fünf Minuten später, als sie daheim im Flur standen, fiel sie ihm plötzlich um den Hals.
»Ach, Harry«, rief sie, und in ihren Augen standen Tränen, »lass uns nächste Woche heiraten. Ich hab Angst vor solchen Streitereien wie jetzt eben. Harry, so was macht mir Angst. Wenn wir verheiratet wären, würde so was nicht passieren.«
Doch Harry, wohl wissend, dass er im Unrecht war, war immer noch gereizt.
»Das wäre ja idiotisch. Wir haben doch beschlossen, im März.«
Da verschwanden die Tränen in Sally Carrols Augen; in ihre Miene trat ein Anflug von Härte.
»Schon gut – ich hätte das wohl besser nicht gesagt.«
Da wurde Harry endlich weich.
»Ach, du liebes kleines Dummchen!«, rief er. »Nun komm schon her und gib mir einen Kuss, und dann vergessen wir das Ganze.«
Am selben Abend, nach einer Vaudeville-Vorstellung, spielte das Orchester Dixie , und plötzlich spürte Sally Carrol etwas in ihrem Innern aufwallen, das stärker und hartnäckiger war als die Tränen und das Lächeln dieses Tages. Sie beugte sich vor und hielt die Armlehnen ihres Sessels umklammert, bis ihr Gesicht feuerrot war.
»Nimmt dich wohl ganz schön mit, was, Liebes?«, flüsterte Harry.
Doch sie konnte ihn nicht hören. Zum lebhaft pulsenden Vibrato der Geigen und zum mitreißenden Takt der Kesselpauken zogen die Geister ihrer Vergangenheit an ihr vorüber in die Dunkelheit, und als die Querpfeifen die Weise leise seufzend wiederholten, da kam’s ihr vor, als wären sie schon beinah außer Sicht, die Geister, als könnte sie ihnen gerade noch zum Abschied winken.
Away, away,
Away down South in Dixie!
Away, away,
Away down South in Dixie!
V
Es war ein besonders kalter Abend. Tags zuvor hatte es plötzlich getaut, so dass die Straßen beinah frei gewesen waren, doch mittlerweile waren sie schon wieder übersiebt von einer hauchdünnen Schicht aus schräg fallendem Pulverschnee, der in Wellenlinien vor dem Wind hertrieb und die unteren Luftschichten mit
Weitere Kostenlose Bücher