Winterträume
fein zerstäubtem Dunst erfüllte. Der Himmel war nicht da – nur ein finsteres, unheimliches Zelt, das sich über die Dächer der Stadt breitete und in Wahrheit aus Heerscharen herannahender Schneeflocken bestand, und über allem toste unablässig der Nordwind, der das tröstliche braun-grüne Glimmen der erhellten Fenster gefrieren und den steten Trab der Schlittenpferde in seinem Tosen untergehen ließ. Eben doch eine düstere Stadt, ging es ihr durch den Kopf – ja, eine düstere Stadt.
Manchmal bei Nacht war es ihr vorgekommen, als lebte hier kein Mensch – als wären alle längst davongegangen, als hätten sie ihre erleuchteten Häuser einfach zurückgelassen, auf dass sie mit der Zeit unter Bergen von Schneegraupel begraben würden. Ach, und auch ihr Grab würde dereinst von Schnee bedeckt sein! Den ganzen Winter lang würde sie unter dicken Bergen von Schnee liegen müssen, und selbst ihr Grabstein höbe nur als lichter Schemen sich ab von so viel anderen lichten Schemen. Ihr Grab – ein Grab, das doch mit Blumen übersät sein sollte, von Sonne überflutet und umspült vom Regen.
Sie musste wieder an die vereinzelten Gehöfte denken, an denen sie mit dem Zug vorbeigefahren war, und an das Leben dort während des langen Winters – ständig das grellweiße Geflimmer vor den Fenstern, die Kruste, die sich auf den weichen Schneewällen bildete, und schließlich das langsame, trostlose Tauen, und dann der rauhe Frühling, den Roger Patton ihr beschrieben hatte. Ihr eigener Frühling – ach, dass der ihr nun für alle Zeit verloren wäre – mit seinem Flieder, seiner trägen Süße, er regte sich in ihrem Herzen. Sie war dabei, ihn von sich abzustreifen, diesen Frühling – und eines Tages würde sie auch diese Süße von sich abstreifen.
Allmählich, aber unerbittlich kam das Schneegestöber. Sally Carrol spürte, wie die Flocken sich auf ihren Wimpern niederließen und immer gleich zerrannen, und Harry langte mit dem pelzgeschützten Arm herüber, um ihr die komplizierte Kappe aus Flanell tief ins Gesicht zu ziehen. Dann kamen die kleinen Flocken in Schlachtreihen heran, und das Pferd neigte geduldig den Hals, als sich auf seinem Fell flugs ein weißer Schleier bildete.
»Oh, Harry, ihm ist kalt«, stieß sie hervor.
»Wem? Dem Pferd? Nein, nein, dem ist nicht kalt. Der hat das gerne!«
Nach weiteren zehn Minuten bogen sie um eine Ecke, und nun war ihr Ziel bereits in Sicht. Auf einem hohen Hügel hob sich in gleißend hellem Grün der Eispalast vom Winterhimmel ab. Drei Stockwerke hoch, mit Zinnen, Schießscharten und schmalen, eiszapfenverhangenen Fenstern, und die unzähligen elektrischen Lichter in seinem Inneren ließen den großen Festsaal in der Mitte herrlich durchsichtig erscheinen. Unter der großen Reisedecke aus Pelz hielt Sally Carrol Harrys Hand umklammert.
»Ist der aber schön!«, rief Harry aufgeregt. »Meine Güte, ist der aber schön geworden! Seit achtzehnfünfundachtzig gab’s hier keinen mehr!«
Indes fand Sally Carrol den Gedanken, dass es seit achtzehnfünfundachtzig keinen mehr gegeben hatte, irgendwie eher niederschmetternd. Das Eis war ein Gespenst, und dort, in diesem Schloss aus Eis, hausten gewiss die Schatten aus den Achtzigern mit ihren aschfahlen Gesichtern und Schnee in dem zerzausten Haar.
»Nun komm schon, mein Liebling«, sagte Harry.
Sie stieg mit ihm aus dem Schlitten und wartete, bis er das Pferd angebunden hatte. Neben ihnen hielt mit mächtigem Glockengeläute ein Viererschlitten, in dem Gordon, Myra, Roger Patton und ein weiteres Mädchen saßen. Es waren schon recht viele Leute da; in Pelze oder Schaffelle gehüllt, stapften sie rufend und lärmend durch den Schnee, der unterdessen so dicht fiel, dass man kaum noch jemanden erkennen konnte, nicht mal, wenn er nur ein paar Schritte vor einem stand.
»Er ist fünfzig Meter hoch«, sagte Harry zu einer dick vermummten Gestalt, die sich neben ihnen auf den Eingang zuschob, »nimmt eine Fläche von über fünftausend Quadratmetern ein.«
Sally Carrol schnappte hier und da ein paar Gesprächsfetzen auf: »Ein großer Saal« – »Wände einen halben bis einen Meter dick« – »und die Kuppel ist fast anderthalbtausend Meter –« – »dieser Kanucke, der ihn gebaut hat –«
Endlich hatten sie es geschafft, in den Palast hineinzukommen, und Sally Carrol, ganz geblendet vom Zauber der hohen kristallenen Wände, ertappte sich dabei, wie sie ein ums andere Mal die folgenden zwei Verse aus Kubla Khan
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