Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
Vom Netzwerk:
her.
    »Harry!«, rief sie wieder.
    Zehn Meter weiter gelangte sie an einen Scheideweg; weiter vorn, zu ihrer Linken, hörte sie eine undeutliche Antwort und lief mit einem Anflug von Panik in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie geriet an eine weitere Gabelung, und wieder klafften vor ihr zwei Wege.
    »Harry!«
    Keine Antwort. Sie rannte los, einfach immer geradeaus, kehrte dann blitzschnell um und rannte, plötzlich von eiskaltem Entsetzen gepackt, denselben Weg zurück, den sie gekommen war.
    Und wieder stand sie an einer Gabelung – war es hier gewesen? –, wandte sich nach links und kam zu einer Art Durchgang, der eigentlich wieder in diesen langen, niedrigen Raum hätte führen müssen, sich indes bloß als ein weiterer glitzernder Korridor erwies, der in die Finsternis mündete. Abermals rief sie nach Harry, doch von den Wänden kam nur ein stumpfes, totes Echo ohne Widerhall. Sie kehrte um, ging auf demselben Weg zurück, bog um eine andere Ecke und befand sich in einem breiten Korridor, ähnlich einer grünen Schneise durch die Wasser des Roten Meeres – ein nasskaltes Gewölbe, von dem überall leere Grüfte abzweigten.
    Nun rutschte sie ein wenig aus im Laufen, denn an den Sohlen ihrer Überschuhe hatte sich eine Eisschicht gebildet; sie musste sich mit den Handschuhen an den halb glatten, halb klebrigen Wänden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Harry!«
    Noch immer keine Antwort. Stattdessen pflanzte sich ihr Ruf nur höhnisch bis zum Ende der Passage fort.
    Dann gingen plötzlich, wie mit einem Schlage, alle Lichter aus, und um sie war vollkommene Finsternis. Vor Angst schrie sie auf und brach dann wie ein Häufchen Unglück auf dem Eis zusammen. Im Fallen spürte sie, dass irgendwas mit ihrem linken Knie geschah, doch sie beachtete es kaum, denn ein Entsetzen, viel, viel tiefer als die schlichte Angst vorm Sich-Verirren, ergriff von ihr Besitz. Sie war allein mit jenem Geist, der aus dem Norden kam, der tristen Einsamkeit, die ausging von den Walfängern im Packeis des Polarmeers, von Wüsteneien ohne Rauch und ohne Fährten, in denen, weit verstreut, die ausgeblichenen Gebeine der Abenteurer lagen. Es war der eisige Hauch des Todes, der auf sie zugekrochen kam, um sie zu packen.
    Mit einer wilden, verzweifelten Kraftanstrengung stand sie wieder auf und tappte blindlings in die Finsternis. Sie musste unbedingt hinaus. Sonst würde sie womöglich tagelang hier drinnen durch die Gänge irren, bis sie erfroren wäre, und dann einfach liegen bleiben, wie manche Leichen, davon hatte sie gelesen, die man im Eis gefunden hatte – vollständig erhalten, bis der Gletscher schmolz. Harry dachte wahrscheinlich, sie sei mit den anderen nach draußen gegangen – er war unterdessen auch schon fort, und erst spät am nächsten Tag würde man wissen, was passiert war. Kleinmütig streckte sie die Hand aus nach der Wand. Einen Meter dick, hatten sie gesagt – einen Meter dick!
    »Oh!«
    Sally Carrol spürte etwas über die Wände kriechen, rechts und links von ihr, feuchtkalte Seelen, die spukten hier in diesem Eispalast, in dieser Stadt, im Norden überhaupt.
    »Oh, mach, dass irgendjemand kommt – dass irgendjemand kommen möge!«, rief sie laut.
    Clark Darrow – ja, der würde sie verstehen; oder auch Joe Ewing; die konnten sie doch nicht ewig so hier herumirren lassen – bis sie erfroren war am Herzen und an Leib und Seele. Dieses Geschöpf hier – diese Sally Carrol! Dabei war sie doch so ein Glückspilz. So ein glückliches kleines Mädchen. Sie liebte die Wärme, den Sommer und Dixie – den Süden. Das hier, das war ihr fremd – von Grund auf fremd.
    »Du musst nicht weinen«, sagte etwas in ihr laut. »Du wirst nie wieder weinen. Deine Tränen würden ohnehin sofort gefrieren; alles gefriert hier sofort!«
    Sie lag ausgestreckt auf dem Eis.
    »Oh, Gott!«, stammelte sie.
    In langer Reihe defilierten die Minuten vorbei, und Sally Carrol spürte, von ungeheurer Müdigkeit erfasst, wie ihr die Augen zufielen. Dann war es ihr, als sitze jemand neben ihr und nehme ihr Gesicht in seine warmen, weichen Hände. Sie blickte dankbar auf. »Ach, das ist ja Margery Lee«, murmelte sie leise vor sich hin. »Ich hab gewusst, du würdest kommen.« Es war tatsächlich Margery Lee, und sie war genau so, wie Sally Carrol sie sich immer vorgestellt hatte, mit junger, weißer Stirn, großen, freundlich-warmen Augen und einem Reifrock aus weichem Stoff, auf dem sich recht behaglich

Weitere Kostenlose Bücher