Winterträume
ein Hund. Die Männer, denen ich heut Abend hier begegnet bin, sind anscheinend alles Hunde.«
»Und was genau bedeutet für Sie ›Hunde‹? Eine gewisse bewusst hervorgekehrte Männlichkeit, im Unterschied zu Takt und Feingefühl?«
»Vermutlich. Ich hab das ja nie analysiert – ich schau mir die Leute einfach bloß an und sehe auf einen Blick, ob sie eher ›Hunde‹ oder eher ›Katzen‹ sind. Ganz schön albern, oder?«
»Überhaupt nicht. Ich finde das sehr interessant. Ich hab meine eigene Theorie über diese Leute. Für mich sind sie im Begriff zu vereisen.«
»Was?«
»Ich glaube, die werden wie die Schweden – im Ibsen’schen Sinne, verstehen Sie? Die werden ganz allmählich immer trübsinniger und melancholischer. Das machen diese langen Winter. Schon mal was von Ibsen gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun ja, seine Figuren zeichnen sich durch so einen gewissen grüblerischen Starrsinn aus. Sie sind selbstgerecht, engstirnig und freudlos, ohne die uneingeschränkte Fähigkeit, wirklich großes Leid oder wirklich großes Glück zu empfinden.«
»Ohne Lächeln und ohne Tränen?«
»Genau. Das ist meine Theorie. Hier oben gibt es Tausende von Schweden, wissen Sie. Ich nehme an, sie kommen her, weil das Klima hier so ähnlich ist wie das, was sie zu Hause haben, und mit der Zeit vermischt sich das hier alles. Heute Abend sind wahrscheinlich nicht mal ein halbes Dutzend unter uns, aber wir hatten vier schwedische Gouverneure. – Langweile ich Sie?«
»Ich find das riesig interessant.«
»Ihre Schwägerin in spe ist auch eine halbe Schwedin. Ich finde sie persönlich ja sehr nett, aber meine Theorie ist, dass uns die Schweden insgesamt nicht guttun. Wussten Sie schon, dass die Skandinavier weltweit die höchste Selbstmordrate haben?«
»Und warum leben Sie dann hier, wenn’s doch so deprimierend ist?«
»Ach, ich lass das alles nicht an mich heran. Ich schotte mich ziemlich gut ab, und wahrscheinlich bedeuten mir Bücher ohnehin mehr als Menschen.«
»Aber die Schriftsteller sagen alle, der Süden sei tragisch. Sie wissen schon – spanische Señoritas, schwarze Haare, Dolche, schaurige Musik.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, die tragischen Rassen, das sind die nordischen – die gönnen sich nicht den beglückenden Luxus der Tränen.«
Sally Carrol musste an ihren Friedhof denken. Ungefähr dasselbe hatte sie wohl damals gemeint, als sie sagte, sie fühle sich dort nicht bedrückt.
»Das heiterste Volk der Welt sind wahrscheinlich die Italiener – aber das ist ein fades Thema«, unterbrach er sich. »Sie werden jedenfalls einen wirklich guten Mann heiraten, das wollte ich Ihnen noch sagen.«
Plötzlich hatte Sally Carrol den Impuls, sich diesem Menschen anzuvertrauen.
»Ich weiß. Ich gehöre zu den Leuten, die ab einem gewissen Punkt behütet sein möchten, und ich spüre ganz deutlich, dass ich das sein werde.«
»Wollen wir tanzen? Wissen Sie«, fuhr er, während sie aufstanden, fort, »es ist eine wahre Freude, mal einem Mädchen zu begegnen, das genau weiß, warum es heiratet. Neun Zehntel glauben nämlich, Heiraten bedeutet, dass man, wie im Kino, Hand in Hand in einen wunderschönen Sonnenuntergang spaziert.«
Sie musste lachen, und sie fand ihn ungeheuer nett.
Zwei Stunden später saß sie mit Harry auf dem Rücksitz und kuschelte sich an ihn.
»Ach, Harry«, flüsterte sie, »ist das ka-halt!«
»Aber wieso denn, meine Kleine, hier drinnen ist es doch schön warm.«
»Aber draußen ist es kalt, und wie der Wind heult!«
Sie verkroch sich mit dem Gesicht ganz tief in ihrem Pelzmantel und musste unwillkürlich zittern, als er sie mit seinen kalten Lippen aufs Ohr küsste.
IV
Die erste Woche ihres Besuchs war ein einziger Wirbel. An einem eisigen Januartag, kurz nach Tagesanbruch, bekam sie die versprochene Schlittenfahrt im Schlepptau eines Automobils. Dick in Felle eingemummelt, rodelte sie einen Morgen lang auf dem Hügel des Countryclubs, ja, sie versuchte sogar, Ski zu fahren, segelte einen herrlichen Moment lang durch die Luft und landete schließlich als lachendes, verheddertes Bündel auf einer weichen Schneewehe. Sie liebte all die Wintersportarten, bis sie einmal im blassgelben Sonnenschein auf Schneeschuhen auf einer glitzernden Ebene dahinsauste und ihr plötzlich klar wurde, dass diese Dinge eigentlich etwas für Kinder waren und man sie lediglich gewähren ließ und die allgemeine Freude um sie herum in Wahrheit nur der Spiegel ihrer eigenen
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