Winterträume
Stellung auf diesen Gewässern unterwegs gewesen war, vom Schiffsjungen auf einem Kaffeefrachter bis hin zum Ersten Offizier auf einem brasilianischen Piratenschiff, dessen Kapitän man vor kurzem aufgehängt hatte.
»Als Weißer wär er längst schon König von Südamerika«, sagte Carlyle pathetisch. »So ein intelligenter Bursche! Gegen den ist Booker T. Washington geradezu ein Schwachkopf. Er hat die Arglist sämtlicher Rassen und Völker, deren Blut in seinen Adern fließt, und das sind mindestens ein halbes Dutzend – ungelogen. Mich betet er an, weil ich auf dieser Welt der Einzige bin, der besser Ragtime spielen kann als er. Früher haben wir zusammen unten in New York an den Kais gesessen, er mit seinem Fagott und ich mit meiner Oboe, und haben die tausend Jahre alten afrikanischen Harmonien so lange mit Molltonarten verschnitten, bis die Ratten an den Pfählen hochgekrabbelt kamen und knurrend und quiekend um uns rumsaßen, wie Hunde vor ’nem Grammophon.«
»Man kann nie wissen, vielleicht warn’s ja welche«, platzte Ardita lachend heraus.
Carlyle grinste.
»Ich schwör’s Ihnen, das ist die reine Wah–«
»Und wenn Sie in Callao sind, wie soll’s dann weitergehn?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Dann schiff ich mich nach Indien ein. Ich will ein Radscha werden. Im Ernst. Ich lass mich irgendwo in Afghanistan nieder, hab ich mir überlegt, ich kauf mir einen Palast und einen guten Namen, und dann, so nach fünf Jahren ungefähr, tauch ich mit einem fremdländischen Akzent und einer geheimnisvollen Vergangenheit in England wieder auf. Aber erst mal geht’s nach Indien. Wissen Sie, man erzählt sich, das ganze Gold, das in der Welt ist, soll angeblich nach und nach wieder zurück nach Indien fließen. Find ich irgendwie faszinierend. Und außerdem will ich Zeit zum Lesen haben – um Unmengen von Büchern zu lesen.«
»Und danach?«
»Danach«, erwiderte er herausfordernd, »kommt die Aristokratie dran. Lachen Sie mich ruhig aus – ich weiß jedenfalls wenigstens, was ich will, das müssen Sie schon zugeben, und damit weiß ich höchstwahrscheinlich mehr als Sie.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Ardita und holte ihr Zigarettenkästchen aus der Tasche, »zu dem Zeitpunkt, als Sie hier angekommen sind, waren gerade alle meine Freunde und die ganze Verwandtschaft in Aufruhr, weil ich eben sehr wohl wusste, was ich wollte.«
»Nämlich was?«
»Einen Mann.«
Er starrte sie an.
»Sie meinen, Sie waren verlobt?«
»Sozusagen. Eigentlich war ich fest entschlossen, gestern Abend – mir ist, als wär inzwischen eine Ewigkeit vergangen – heimlich an Land zu gehn und mich in Palm Beach mit ihm zu treffen, aber dann kamen Sie an Bord. Er wartet dort auf mich mit einem Armband, das früher der russischen Zarin Katharina gehörte. Jetzt fangen Sie aber nicht gleich wieder an, irgendwas von Aristokratie zu faseln«, warf sie rasch ein. »Ich fand ihn einfach gut, weil er so viel Phantasie gehabt hat und so unheimlich mutig war in seinen Überzeugungen.«
»Aber Ihre Familie war dagegen, ja?«
»Jedenfalls der schäbige Rest von Familie, den ich noch habe, genauer gesagt – mein blöder Onkel und meine noch blödere Tante. Er hat sich anscheinend mit so einer Rothaarigen eingelassen, irgendeiner Mimi Dingsbums – das sei alles schrecklich aufgebauscht worden, sagt er, und mich belügt kein Mann – und außerdem, was früher war, das ist mir eh schnurzpiepegal; für mich zählt einzig und allein die Zukunft. Und wer mich liebt, der amüsiert sich nicht mit anderen. Da tät ich schon drauf achten. Ich hab zu ihm gesagt, er soll sie fallen lassen wie ’ne heiße Kartoffel, und das hat er getan.«
»Sie machen mich ja richtig eifersüchtig«, sagte Carlyle mit finsterer Miene, doch dann lachte er. »Ich schätze mal, ich muss Sie mitnehmen bis nach Callao. Dort leih ich Ihnen dann das nötige Geld für die Rückreise in die Staaten. Und in der Zwischenzeit haben Sie Gelegenheit, sich die Sache mit diesem Herrn da noch mal gründlich durch den Kopf gehn zu lassen.«
»Wie reden Sie denn mit mir?!«, fauchte Ardita. »Ich lasse mich nicht bevormunden, von niemandem! Verstehen Sie?«
Er lachte, aber plötzlich traf ihn ihre eiskalte Wut, und er kühlte ab und schwieg einigermaßen beschämt.
»Tut mir leid«, probierte er es leicht verlegen.
»Ach was, hören Sie auf, sich zu entschuldigen! Ich hasse es, wenn Männer in diesem männlich-zugeknöpften Ton ›Tut mir leid‹ sagen. Halten Sie
Weitere Kostenlose Bücher