Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Verteidigungsanlagen.«
Der Führer der Barden-Inkall wirkte ernst. »Und ich bin natürlich überzeugt davon, dass auch Angain gänzlich in Eure Absichten eingeweiht war. Dennoch, es kam vor, dass Euer Vater Pläne schmiedete, die ihren Weg nicht zu den untergeordneten Thanen fanden. In solchen Zeiten pflegte er sich an die Inkallim zu wenden. Das tat er, wann immer das Haus Horin-Gyre in der Vergangenheit ermahnt oder bestraft werden musste. Ihr erinnert Euch vielleicht.«
»Ich erinnere mich«, bestätigte der Hoch-Than leichthin. »Horin-Gyre war früher noch widerspenstiger als heute. Aber wenn Ihr mich verdächtigt, dass ich Euch Geheimnisse vorenthalte, dann sagt es frei heraus! Das ist das Vorrecht der Barden-Inkall.«
»Meine Worte sollen keine Anklage sein. Ich bezweifle keinesfalls, dass Eure Pläne oder Vorhaben der Sache des Schwarzen Pfads dienen. Dass sie den Glauben stärken und nicht etwa schwächen. Oder gar seinen Feinden zugutekommen.«
Ragnor blieb unvermittelt stehen. Nach einigen Schritten drehte sich Theor um und hielt nach dem Hoch-Than Ausschau. Hinter ihnen kamen Ragnors Schildwache und der gesamte Trauerzug schlurfend zum Stehen, verwirrt über die plötzliche Verzögerung. Aber niemand stellte Fragen oder erhob Widerspruch. Die Menschen verharrten einfach im leise rieselnden Schnee. Als Ragnor das Wort ergriff, war seine Stimme so leise, dass nur Theor ihn verstand, aber klar und eisig.
»Keine Anklage, aber vielleicht eine Drohung? Ich würde jeden töten, der auch nur andeutete, dass mein Handeln in irgendeiner Weise den Glauben schwächen könnte. Jeden mit Ausnahme der Barden, die in solchen Angelegenheiten besondere Privilegien genießen.«
Der Führer der Barden-Inkall lächelte.
»Diese Privilegien beschränken sich selbstverständlich auf Glaubensdinge«, fuhr Ragnor fort.
»Selbstverständlich. Aber versteht mich nicht falsch, Hoch-Than. Ich will weder anklagen noch drohen, sondern wünsche mir lediglich, dass keine Geheimnisse zwischen uns stehen. Das Gyre-Geschlecht und die Inkallim sind die Wurzeln und die Äste unseres Glaubens. In der Vergangenheit wurde der Schwarze Pfad immer wieder durch gemeinsames Handeln geschützt oder erneuert. Was immer unser Zusammenwirken unterhöhlt, gibt mir Anlass zur Sorge.«
»Gewiss. Ihr seid der Hüter des Glaubens und …«
Die Worte des Hoch-Thans wurden unvermittelt durch wilde Schreie und das Knirschen von Holz unterbrochen. Als er und Theor sich umwandten, sahen sie gerade noch, wie eines der Karrenpferde scheute und sich aufbäumte. Das andere tat einen Satz nach vorn und riss den Wagen mit. Das im Morast versunkene Rad kam frei und streifte einen Felsblock, als der Karren in Schräglage geriet. Der Bär, von dem Tumult beunruhigt, richtete den Oberkörper auf. Die Tarbain schrien zornig. Ragnor sah einen Wimpernschlag vor ihnen, was geschehen würde, und murmelte: »Diese Schwachköpfe!«
Durch die Schräglage des Karren verrutschte der Käfig, und der Bär taumelte zur Seite. Langsam, aber unaufhaltsam und von einem ohrenbetäubenden Krachen begleitet, stürzten Wagen und Käfig um. Das Geschrei der Tarbain wurde immer lauter. Beide Zugpferde zerrten in Panik an den Gurten. Brüllend befreite sich der Bär aus dem zerbrochenen Käfig und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Die Männer ergriffen die Flucht. Einer war eine Spur zu langsam. Der Koloss holte ihn nach wenigen Schritten ein und schleuderte ihn mit einem einzigen Prankenhieb zu Boden. Dann schloss er die Kiefer um den Kopf der Beute und schüttelte sie hin und her, bis das Genick mit einem deutlich hörbaren Knacken brach. Die übrigen Tarbain flohen den Weg entlang. Für kurze Zeit stand der Bär über den leblosen Körper gebeugt da, ehe er sich umwandte und die Schar der Trauergäste anstarrte, die weiter oben am Hang stand.
»Offenbar wird es Zeit, dass wir eingreifen«, meinte Ragnor. Er nickte seiner Leibgarde zu. Die Männer lösten sich von den Trauernden und griffen nach ihren Armbrüsten. Der Bär schüttelte sich und kam ein paar Schritte auf sie zu. Noch einmal richtete er sich mit lautem Gebrüll auf.
»Ein Prachtkerl«, murmelte der Hoch-Than. Einige seiner Krieger knieten nieder, die übrigen stellten sich in Reih und Glied hinter ihnen auf. Bolzen wurden in die Schaftrinnen gelegt. Der Bär verlagerte das Gewicht wieder nach vorn und trottete auf allen vieren näher. Abermals stellte er sich auf die Hinterpfoten und brummte zornig.
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