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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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seinen Namen, und die Thane nutzten ihn weiterhin als Wohnsitz.
    Der Turm der Throne war bereits alt, als Grey Kulkain, der erste Than von Kilkry, ihn mitten im Chaos der Sturmjahre zu seiner Burg und Festung machte. Er stammte aus einer Zeit noch vor der Entstehung des Aygll-Königreichs, aus einer Zeit, da die Wolfsrasse noch nicht vollständig ausgerottet war und die Götter die Welt noch nicht verlassen hatten. Unter den belebten Straßen von Kolkyre lag eine ältere Siedlung, die hier und da in Form einer verfallenen Mauer oder eines seltsam gepflasterten Straßenstücks zutage trat. Der Turm der Throne war das einzige Werk jener Urstadt, das die Epochen unversehrt überdauert hatte. Manche sahen in seiner schroffen Vollkommenheit die Handschrift einer fremden Rasse. Andere glaubten, ein König des Menschengeschlechts, dessen Name und Reich in Vergessenheit geraten war, habe ihn errichtet, lange bevor die Herrscher der Aygll-Linie an die Macht kamen. Und wieder andere raunten von einem Na’kyrim -Magier, dem die Gemeinschaft des Geists geholfen hatte, den Turm zu erbauen.
    Von einem vergitterten Fensterchen hoch droben an der Westflanke des Turms blickte Taim Narran über die Stadt hinweg auf die schaumgefleckte See. Der Wind trieb hohe Wellen in die Anaronbucht und warf sie gegen die Docks und Kaimauern von Kolkyre. Die im Sturm segelnden Möwen bildeten grauweiße Bogen gegen das dunkle Wasser. Sie waren weit weg und tief unter ihm. Diese Betrachtung aus der Ferne, völlig losgelöst vom Fluss der Ereignisse, erfüllte ihn mit einem seltsamen Frieden. Er war schon oft in seinem Leben in Kolkyre gewesen, und bisher hatte ihm das geschäftige Treiben der Stadt – das irgendwie menschlicher und vertrauter wirkte als die Hektik von Vaymouth – immer Vergnügen bereitet. Diesmal aber hatte er nur den Wunsch, sich von allem abzuschotten und etwas Ruhe zu finden. Er atmete tief durch und genoss den Geruch des Seetangs, der mit der Brise hereinwehte.
    Ein zäher Husten riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um. Lheanor, der alternde Than von Kilkry, sank schwer in einen Sessel und beobachtete ihn. Langes graues Haar umrahmte sein Gesicht. Er tupfte sich die Lippen mit einem Tuch ab.
    »Verzeiht«, sagte Lheanor. »Ich wollte Euch nicht aus Eurer Versunkenheit holen. Aber es sind viele Stockwerke nach hier oben, und meine alten Knochen wehren sich gegen das Treppensteigen.«
    Taim schüttelte lächelnd den Kopf und deutete auf das Fenster. »Eine herrliche Aussicht.«
    »Ja. Mein Vater verbrachte viele Stunden hier oben. Allerdings machte ihn der Anblick oft ein wenig mürrisch. Ich denke, er hatte zu viel Zeit, um sich an all das zu erinnern, was wir verloren hatten.«
    »Ja«, seufzte Taim. »Die Vergangenheit muss hier eine besonders schwere Last sein.«
    »Ist sie irgendwo leicht zu tragen?«, murmelte Lheanor.
    »Nicht in unseren Tagen.«
    »Man kann einen Menschen gut danach beurteilen, was er empfindet, wenn er die Welt aus großer Höhe betrachtet«, sagte der Than. »Was empfindet Ihr?«
    »Heute leider nichts Angenehmes. Aber es ist dennoch eine schöne Aussicht.«
    Er nahm in einem kleineren Sessel neben Lheanor Platz. Eine Weile schwiegen beide. Taim schloss die Augen. Es war lange her, seit er zuletzt ausgeruht hatte.
    »Schade, dass unsere Wiederbegegnung unter einem solchen Unstern steht«, hörte er Lheanor sagen und wandte sich dem alten Mann zu. »Es war traurig genug, Euch auf Gryvans Geheiß nach Süden ziehen zu sehen. Ich hoffte damals, Eure und Roarics Heimkehr gäben uns Anlass zum Feiern.«
    »Ich auch«, erwiderte Taim. »Aber Roaric kann nicht weit hinter mir sein. Auch wenn die Zeiten düster sind – er hat noch eine Heimat.«
    »Eine Heimat, die ein gutes Stück ärmer ist als bei seinem Aufbruch. Er hatte einen Bruder, ehe er in den Süden ging.« Taim wandte den Blick ab. Lheanors Schmerz war schwer zu ertragen. »Und was ist mit Eurer Heimat, Taim? Mein Haus hat versagt, als Euer Herr Hilfe brauchte.«
    »Nein«, widersprach Taim. »Ihr seid die einzigen echten Freunde, die wir haben. Ihr habt nicht versagt. Die Schuld liegt anderswo.«
    Lheanor runzelte die Stirn. »Schuld, gewiss. Aber die Frage nach den Schuldigen macht die vielen Toten nicht wieder lebendig. Anduran ist verloren, halb Kolglas niedergebrannt, Glasbridge bedroht. Noch hält der Schutzwall von Tanwrye, den der Feind seit Wochen belagert, aber wir können den Eingeschlossenen nicht helfen. Auch nicht Eurem Than

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