Wintzenried: Roman (German Edition)
den Aufenthalt in Städten hassen. Da haben wir etwas Gemeinsames. Vielleicht sollten wir uns einmal treffen. Nur kann ich, weil wir alle so krank sind, im Moment nicht sehen, wo und wann das möglich sein soll. Im Übrigen mag ich Sie sehr.
Jean-Jacques lässt in Genf vorfühlen, ob man ihn dort wieder aufzunehmen bereit ist. Die Stimmung scheint gut. Er ist jetzt ein berühmter Sohn der Stadt, und wenn er seine Fehler bereut, können die Calvinisten mit einem Verirrten auftrumpfen, der sich zurück zur Wahrheit bekehrt hat. So jedenfalls lauten einige diskrete Botschaften, die ihn in Paris erreichen. Die blühenden Landschaften, die herrliche Luft, das heitere Wetter, ein freies, glückliches Volk, die seligen Erinnerungen, alles wird sich wieder zusammenfinden.
Auf dem Weg dorthin will er Mama besuchen. Zusammen mit Thérèse. Seit über zehn Jahren hat er Mama nicht mehr gesehen. Ein paar Stunden will er mit ihr im alten Garten verbringen, bei den Haselbüschen, den Rosen, dem Flieder. Thérèse soll sehen, wie märchenhaft schön sein Leben einmal war. Jean-Jacques kann es kaum erwarten. Auch die Ankunft in Genf nicht. Als wäre alles nur ein langer Umweg gewesen, um wieder dort anzugelangen, wo man nicht fremd ist. Eine über Jahre hinausgezögerte Heimkehr. In ein Land, dessen Berge so hoch sind, dass sie noch nachglühen, wenn die Sonne längst untergegangen ist. Jean-Jacques könnte seufzen vor Glück.
Nur darf in Genf niemand glauben, Thérèse sei etwas anderes als seine Schwester oder Tante. Sonst könnte er auf der Stelle umkehren und bräuchte um die Wiederaufnahme in den richtigen Glauben erst gar nicht mehr zu bitten. Und nie würde er sich einen Bürger von Genf nennen können. Er könnte Thérèse in Paris zurücklassen. Doch nach Paris will er nie mehr zurück. Und deshalb muss sie mitkommen. Ohne sie wäre er mutterseelenallein. Es wird ein Verhör des Konsistoriums geben, hat man ihm angekündigt. Gewiss werden sie auch über diese Frau reden wollen. Vermutlich sogar vor allem über sie. Er muss alle Zweifel zerstreuen. Muss einfach lügen. Doch was sind schon Lügen, sagt er sich, wenn sie einer höheren Wahrheit dienen? Schließlich kommt es auf nichts anderes als ein gutes Gewissen an. Auf die Reinheit des Herzens. Auf Dinge, die man nicht sehen kann. Und deshalb können Lügen eine höhere Wahrheit sein als irgendwelche Tatsachen. Ist er erst einmal in Genf, wird man weitersehen. Vorsichtshalber lässt er in Paris noch einige Dinge zurück. Ein einziger Koffer genügt für die Reise.
Sie ist alt geworden. Eine runzlige Frau mit braunen, fauligen Zähnen. Mama sieht erbärmlich aus. Von der stolzen Baronesse aus Vevey ist fast nichts übrig geblieben. Eine elende Kreatur, die nur noch von Geld reden kann und davon, wie berühmt ihr Kleiner inzwischen ist. Womit sie sagen will, dass er ihr Geld geben soll.
Wahrscheinlich hält sie mich für undankbar, denkt Jean-Jacques die ganze Zeit. Er hat ein schlechtes Gewissen, aber trotzdem kein Geld, ob sie es wahrhaben will oder nicht. Andererseits lässt man seine Mama nicht einfach stehen und verabschiedet sich mit einem schlichten: Es tut mir leid. Thérèse nickt immer, wenn Jean-Jacques wiederholt, dass er ihr wirklich nicht helfen kann.
Auf dem Tisch steht Most. Sonst könne sie nichts anbieten, keine Waffeln, kein Würzbrot, rein gar nichts.
Am liebsten würde Jean-Jacques sich überhaupt nicht hinsetzen und behaupten, gleich weiterzumüssen. Bereits im Stehen ist das, was er hier sehen muss, schwer zu ertragen. Und Sitzen macht nur umso unruhiger.
Ich könnte nach Paris kommen, schlägt Mama vor.
Paris sei für immer vorbei, behauptet Jean-Jacques.
Immer hatte er sich ein bisschen gewünscht, dass Mama ihn eines Tages anfleht, bei ihm sein zu dürfen, aber nie gewollt, dass sie aussieht wie jetzt. Ein heruntergekommenes altes Weib hätte er sich zuletzt vorgestellt. Nicht einmal den Wunsch, sich nach ihr sehnen zu können, erfüllt sie einem jetzt noch. Am besten wäre er nie wieder hierhergekommen. Ihr Blick sagt ihm, dass er gefühllos ist.
Dann komme ich mit nach Genf, lässt sie nicht nach.
Jean-Jacques muss sie daran erinnern, dass sie sich in der Schweiz nie mehr sehen lassen kann. Auf dem Land, sagt er, lebst du wenigstens draußen. Mehr fällt ihm nicht ein. Thérèse nickt. Mama schluchzt.
Vom Perückenmacher ist weit und breit nichts zu sehen. Schon seit Jahren lebe er im Nachbarort, sei Inspektor der Kupferbergwerke,
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