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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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behandeln und von ihm umworben zu werden, Diderot lässt sich sofort von einer Bäuerin zu einer Gavotte verführen, Grimm setzt sich auf eine Bank und schaut drein, als bereute er es, Paris je verlassen zu haben. Jean-Jacques steht ein bisschen verloren herum. Hin und wieder fragt er ein Kind, wie es heißt. Einem Mädchen schenkt er eine Münze, für ein anderes pflückt er am Wegrand ein paar Blumen, ein drittes, dem er übers Haar streicheln will, rennt sofort weg. Weil Thérèse nirgends zu sehen ist und Madame d’Epinay immer noch tanzt und sich von Bauernlümmeln betatschen lässt, setzt er sich zu Grimm.
    In der Schweiz können die Menschen fröhlich sein, auch ohne Bier und Wein in sich hineinzuschütten, sagt er.
    Weil Grimm nicht reagiert, sagt er es noch einmal.
    In der Schweiz umarmen sich bei solchen Festen sogar Menschen, die sich gar nicht kennen.
    Wieder reagiert Grimm nicht.
    Dort singen sie auch schönere Lieder, sagt Jean-Jacques.
    Grimm schweigt.
    In der Schweiz sind die Menschen heiter, hier lärmen sie nur, erklärt Jean-Jacques.
    Grimm schaut an Jean-Jacques vorbei, in ferne Weiten.
    In der Schweiz können die Menschen ausgelassen sein ohne eine solche Schamlosigkeit.
    Grimm scheint nicht zu verstehen, wovon Jean-Jacques spricht.
    Diesen Leuten hier müsste man eher Ohrfeigen geben als Küsse, sagt Jean-Jacques.
    Wieder reagiert Grimm nicht.
    Die Menschen in der Schweiz genießen das Leben mit einer ganz anderen Festigkeit, behauptet Jean-Jacques.
    So weihevoll, wie du das Wort Menschen aussprichst, habe ich das Gefühl, zu dieser Gattung nicht zu gehören, sagt Grimm leise und murmelt etwas von Klüpfels Nutte vor sich hin.
    Jean-Jacques scheint es nicht gehört zu haben und meint: In Frankreich haben die Leute sogar schon auf dem Land alle Natürlichkeit verloren, selbst die Kinder. Sogar auf dem Dorf ist in Frankreich das Leben trostlos.
    Grimm steht auf und sagt im Weggehen: Auf dem Dorf ist das Leben auf der ganzen Welt trostlos.
    Nie wieder will Jean-Jacques in Gesellschaft über die Dörfer fahren. Während Thérèse am Herd steht, wäscht und putzt, sitzt er am Küchentisch, um zu vollenden, was noch vollendet werden muss.
    Als er vor acht Jahren anfing, seine ersten Musikartikel für die Enzyklopädie zu verfassen, schrieb er an Mama: Ich bin verzweifelt. Wie soll ich das bei meinem Wissen machen? Nur meine Galle kann mir Kraft und Geist geben. Statt Spottgesänge auf meine Feinde anzustimmen, schreibe ich jetzt Lexikonbeiträge. Sie halten länger. In alle Ewigkeit. Er hatte damals noch nicht hinzugefügt: Ich werde mich an allen rächen, an der Akademie, an Rameau, wenn es sein muss, an allen Franzosen.
    Inzwischen hatte Rameau eine Schrift gegen Jean-Jacques’ Enzyklopädieartikel veröffentlicht, in der er ihm Dutzende Fehler nachzuweisen versucht. Doch wer, sagt sich Jean-Jacques, wird in tausend Jahren noch den Namen Rameau kennen?! Schon jetzt redet kaum noch jemand von ihm. Er ist alt, und krank soll er auch sein. D’Alembert hatte daraufhin von Jean-Jacques verlangt, wissenschaftlicher zu argumentieren. Schließlich sei die Enzyklopädie kein Meinungsblatt wie der Mercure de France . Und deshalb sieht er sich jetzt gezwungen, den Franzosen auf anderem Wege die Wahrheit über ihre Musik ins Gesicht zu sagen, bevor er ihr Land für immer verlässt. Er schreibt einen Brief an sie alle, einen Brief, der dick wie ein ganzes Buch wird.
    Eure Musik, lässt er sie wissen, martert das Ohr mit Hässlichkeiten, wie sie die Welt noch nie erlebt hat. Was ihr liebt, ist das Abartige und Abnorme, Grässliche und Grauenhafte, Exzentrische und Extravagante. Als wollten eure Komponisten nicht mehr zum Herzen sprechen, sondern nur noch das Interessante, Bizarre und Groteske gelten lassen. Statt schöne Melodien zu erfinden, lassen sie die Orchester wie jaulende Katzen, heulende Hunde und quakende Frösche klingen. Jedes natürliche Empfinden treten sie mit Füßen, als könnte nur noch das Absonderliche und Kranke eure Nerven kitzeln. Ganz zu schweigen von dem jämmerlichen Genäsel eurer Sänger, das beweist, dass eure Sprache für Musik nicht gemacht ist. Schaut euch nur eure Pariser Oper an, diesen Tempel des Sonnenkönigs, von dessen Fresken einem Medusenköpfe und brünstige Götter entgegenstarren, ganz so wie auch auf euren Bühnen, wo eure Sängerinnen aus ihren Lungen nichts als Gekreisch pressen, sich die Fäuste an die Brust drücken, den Kopf wie im Wahnsinn nach hinten werfen

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