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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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Wahrscheinlicher aber sei, dass diese sonst so verschlafene Akademie endlich habe einmal auffallen und sich aus der Versenkung retten wollen.
    Ein anderer erinnert Jean-Jacques daran, dass er noch vor ein paar Jahren in einer Schrift die Künste und Wissenschaften als höchste Güter der Menschheit gepriesen hat. Jean-Jacques wird auf solche kleinlichen Angriffe nicht antworten. Er wird sich von nun an mit einem armenischen Kaftan und einer orientalischen Pelzmütze kleiden, um der Pariser Welt zu zeigen, dass er nicht mehr zu ihr gehört. Alle sollen es sehen, auf den Boulevards, in den Tuilerien, im Bois de Boulogne. In gewöhnlichen Kleidern wird er nicht mehr auftreten. Seine venezianischen Seidenhemden hat ihm sowieso schon Thérèses Bruder gestohlen, und was er noch an besseren Röcken und Westen besitzt, verkauft er mitsamt seiner Uhr, die ihm schon deshalb nicht mehr von Nutzen ist, weil er ab sofort in seiner eigenen Zeit leben wird. Schließlich hat Thérèse recht gehabt: Wozu sollte man die Ziffern einer Uhr lesen können?
    Er wird mit ihr jetzt jeden Abend am Fenster sitzen und vor aller Augen ein bescheidenes Abendbrot einnehmen: zwei Bissen Käse und ein kleines Glas Wein. So können alle sehen, wie genügsam sie leben. Diese Genügsamkeit wird ganz Paris beschämen. Und für einen Seelenfrieden sorgen, wie er nur ihnen beiden vergönnt ist. Vielleicht, denkt Jean-Jacques, wird man mich eines Tages mit Sokrates und Jesus vergleichen.
    Allerdings gibt es auch Stimmen, die meinen, das alles sei nichts Neues, und die auf den heiligen Franziskus und Luther verweisen, der die Vernunft eine Hure schimpft. Im Übrigen erzähle, so behaupten sie, jeder Pfarrer in der Kirche jeden Sonntag ungefähr das Gleiche. Ein Benediktinerpater wirft Jean-Jacques sogar vor, alles von seinem Orden abgeschrieben zu haben. Nichts als Plagiat sozusagen. Kein einziger eigener Gedanke. Nur Pomp und Pathos, behauptet der Pater. Genau das, was er anderen vorwerfe: eitle Beredsamkeit, ein dünkelhaftes Schwelgen in Bildern und Vergleichen, Zitatenhuberei und Belesenheitsangeberei. Sonst nichts, außer ein paar schlichten Gedanken, wie sie in jedem Katechismus zu finden seien. Auch kommen Stimmen auf, die seine Hymnen auf alles Soldatische und Spartanische ein wenig degoutant finden.
    Es sind Leute, die mir meinen Ruhm neiden, sagt Jean-Jacques sich. Die es nie so weit gebracht haben. Was gehen sie mich an, diese geifernden Pfaffen und kläffenden Hunde?! Auf solche Leute reagiert man gar nicht. Ganz anders, als wenn große Häupter sich zu Wort melden. Wie etwa der vor den Russen geflohene polnische König Stanislas und jetzige Herzog von Lothringen, der im Mercure de France schreibt: Falls der Autor wirklich ernst meint, was er sagt, muss man diesen Mann mit seinen eigenen Waffen schlagen und seine Lehren auf ihn selbst anwenden. Oder wollte er nur mit seinem Geist brillieren und mit seiner Fantasie angeben? Er entrollt einen genialen Roman vor unseren Augen, eine wunderbare, wunderliche Erzählung über die Geschichte der Menschheit, mit allen Zutaten, die ein guter Roman braucht: das Lob der Naivität, die rührende Geschichte von der bewundernswerten Moral der einfachen Leute und ihrem beeindruckenden Leben.
    Das alles, schreibt König Stanislas, sei schön zu lesen und herrlich formuliert, nur müsse man sich fragen, welche Folgerungen man daraus zu ziehen habe und warum wir von unserem Schöpfer mit einer so üppigen Natur und so vielen Gaben wie Geist und Verstand beschenkt worden seien. Etwa um sie zu unterdrücken und uns zu zwingen, im Zustand der Tierheit zu verharren? Und was solle der Mensch mit seiner Neugier machen? Der Handwerker mit seinen Fähigkeiten? Der Arzt mit seinem Wunsch, so viel wie möglich über den Körper, die Seele und die Wirkstoffe zu erfahren, die unserer Heilung dienen? Wie würde eine Welt ohne Justiz aussehen, würde man sich immer nur auf eine kindliche Unschuld berufen und alles, was komplizierter ist, als Kultur verdammen? Warum sollte man auf einmal ein besserer Mensch sein, wenn man von nichts eine Ahnung hat? Warum keine Verbrechen mehr begehen, wenn die Wissenschaften abgeschafft sind?
    Und woher, fragt er, das vorlaute Wissen, dass überall dort, wo es primitiv zugeht, das Leben rein und schön ist? Woher solche Wahrheiten, die außer im Kopf keine Wirklichkeit besitzen? Wo soll es denn diese Menschen ohne Fehler, Begierden und Leidenschaften geben? Und was in der Welt lässt sich

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