Wintzenried: Roman (German Edition)
Inspektor des Straßenwesens, Verwalter des Schlosses und Herausgeber des Gemeindeblatts. Frisör sei er übrigens nie gewesen, meint Mama auch noch betonen zu müssen. Jean-Jacques verkneift sich zu bemerken: Dann könnte er doch für dich sorgen.
Dass er eines Tages vor ihr so gern fliehen würde, hätte er nie im Leben gedacht. Unerträglich langsam sind die zwei, drei Stunden in Mamas verwahrlostem Paradies vergangen.
Auf der Poststation in Genf liegt für ihn bereits ein Brief von ihr. Er besteht nur aus einem einzigen Satz: Trotzdem bleibe ich Deine Mutter!
Jean-Jacques nimmt sich vor, sie stets in Ehren zu halten, schon jetzt zu Lebzeiten. Nur kann er ihr von nun an, da er zum wahren Glauben zurückkehrt, nie mehr verzeihen, dass sie ihn zum Katholizismus verführt und dafür vom sardischen König und vom Bischof Silberlinge genommen hat. Wie Judas. Immer ging es ihr nur um Geld. Um Geld und Vergnügen. Was er inzwischen erbärmlich findet. Seinen Hunger, sein Elend, seine Obdachlosigkeit hatte sie schamlos ausgenutzt und ihn im Grunde erpresst, geistig wie geschlechtlich.
Das kirchliche Konsistorium lässt Jean-Jacques drei Wochen warten. Dann erst ist es bereit, ihn anzuhören. Von Nachprüfungen ist die Rede. Seine Schriften müssten nochmals genau studiert und auch sonstige Auskünfte eingeholt werden. Dass er nichts von der Erbsünde hält, spricht in den Augen der Priesterschaft nicht gerade für eine Wiederaufnahme in die calvinistische Gemeinschaft. Auch dass er etwas gegen die Vernunft und die Wissenschaft hat, spricht nicht für ihn. Dass die Frau, mit der er reist, nicht seine Gattin ist, gibt sowieso zu denken. Zudem wird daran erinnert, dass weder sein Vater noch andere Verwandte als Vorbilder herhalten können. Vagabunden, Flüchtige, Herumtreiber. Aber es gibt auch Stimmen, die behaupten, dass Genf durch seine Berühmtheit ganz neuer Glanz verliehen würde.
Jean-Jacques lernt seitenweise den Katechismus auswendig. Besser als jeder Priesteranwärter will er auf alles vorbereitet sein, auch wenn ihm wenig von dem, was dort geschrieben steht, einleuchten will. Dass der Mensch von Grund auf verderbt ist: Einen solchen Satz kann er beim besten Willen nicht über die Lippen bringen. Doch er wird alles dafür tun, dass es ihm trotzdem gelingt.
Als er schließlich vor dem Hohen Rat steht, wird über alles Mögliche gesprochen. Über Gott im Allgemeinen und die Sitte und Ordnung im Besonderen; von der Vorsehung ist die Rede und den Auserwählten, von der Schrift und der Gnade, dem Glauben und der Auferstehung. Jean-Jacques meint zu spüren, dass damit eine einzige Frage, so lange es geht, hinausgeschoben wird. Nach einem längeren Schweigen wird sie dann auch so jäh wie umstandslos gestellt: Wer ist diese Frau?
Jean-Jacques will etwas sagen, hält aber nochmals inne, wischt sich eine Träne aus dem Auge, schluchzt ein wenig und beginnt mit einem ruhigen Kopfschütteln, das gar nicht mehr aufhören will, zu erzählen: Eines Tages im Winter, es ist schon dunkel, höre ich Schreie, renne zum Fenster, sehe auf der Straße zwei Männer, die aufeinander einschlagen, gar nicht mehr voneinander ablassen und einer Frau, die gerade vorbeikommt, in den Bauch treten. Die Frau bricht zusammen, bleibt bewusstlos liegen, ich eile zu Hilfe, werde von den beiden auch noch getreten, trage sie in meine Wohnung, lasse die besten Ärzte rufen, pflege sie und überlasse ihr mein Bett, bis sie wieder gesund ist. Kurzum, ich habe ihr Leben gerettet, und zum Dank will sie mir jetzt bis an mein Ende dienen.
Die hohen Herren wissen nicht, was sie sagen sollen. Es herrscht Schweigen. Sehr langes Schweigen. Keiner schaut einen anderen an, jeder blickt vor sich hin. Jean-Jacques versucht noch einmal zu schluchzen, etwas leiser als zuvor, doch so, dass alle merken, wie ihn diese Geschichte bis heute erschüttert. Ein bisschen hat er das Gefühl, sie glauben ihm nicht. Widerlegen können sie diese Geschichte aber auch nicht. Keiner von ihnen war schließlich dabei. Sie mag erstaunlich klingen, sagt er sich, doch wie könnte ein Christ das Mitleid eines anderen Christen verdammen?
Nach einer langen, stillen Weile nickt der Vorsitzende. Er müsse sich ein paar Tage zurückziehen, das Abendmahl besuchen und mit sich ins Gericht gehen, erklärt man ihm. Danach stehe der Konversion nichts mehr im Wege.
Jean-Jacques tut, wie ihm aufgetragen wird. Eine Woche später darf er sich Bürger von Genf nennen. Sie haben den verlorenen
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