Wintzenried: Roman (German Edition)
jedes natürliche Gefühl zerstört, das Herz dem Kopf opfert, Gott aus der Welt hinausjagt und mit ihren Vernünfteleien jedes natürliche Empfinden mit Füßen tritt. Und all das nur aus eitler Spitzfindigkeit und einer Müßiggängerei, die sich kultiviert vorkommt. Keiner von denen sucht im Wald die Einsamkeit, und keiner von ihnen schaut ergriffen zum nächtlichen Firmament hinauf. Sie alle sitzen tagaus, tagein am Schreibtisch oder an üppigen Tafeln, wo sie bei ihren sich klug dünkenden Gesprächen die Wörter mit der Wirklichkeit verwechseln.
Eine Woche nachdem d’Alembert den Brief aus Dijon vorgelesen hat, sitzt man wieder wie jeden Donnerstag beim Souper im Hause Holbach zusammen. Wie immer hat Madame wunderbar gekocht und Monsieur die besten Flaschen aus dem Keller geholt. Zwischen den Gängen darf ein junger Abbé sein neues Theaterstück vorlesen. Ernst nimmt ihn keiner, doch man gibt sich interessiert. Dass das zustimmende Nicken nichts als Spott ist, merkt er offenbar nicht und denkt wahrscheinlich sogar, seine lächerliche Lesung könnte der Auftakt zu etwas ganz Großem sein und ihn geradewegs in die Comédie Française, ja vielleicht sogar eines Tages in die Akademie führen.
Solche Abbés gibt es in Paris wie Sand am Meer. Jean-Jacques kennt sie aus den Kaffeehäusern zuhauf. Ausgebildet von der Kirche, aber nur mit aufklärerischen Flausen im Kopf, fressen sie sich liebedienerisch an den Tafeln der Reichen durch und bringen deren Sprösslingen ein bisschen Latein bei. Um in die Salons zu kommen, schmieren sie freidenkerische Traktätchen zusammen, in der Hoffnung, einmal so berühmt wie Voltaire zu werden. Genau so, wie es auch der heutige Gast im Hause Holbach macht. Seiner Tragödie hat er ein paar einleitende Worte vorangestellt und zwischen der Taubenpastete und Rebhuhnsülze erklärt, dass Komödien mit einer Hochzeit, Tragödien mit Mord enden. Natürlich wurde rundum gelacht, was aber bei dieser Gesellschaft mit Zustimmung wenig zu tun hat.
Beim siebten oder achten Gang angelangt, als bereits die Liköre, das Konfekt, die Früchte, das Eis und die Waffeln aufgetragen werden und der Abbé gerade dabei ist, seinen letzten Akt zu Ende zu bringen, springt Jean-Jacques auf, reißt ihm die Blätter aus der Hand, zerstampft sie auf dem Boden und schreit ihn an: Das ist Dreck, machen Sie etwas Anständiges, gehen Sie als Vikar aufs Land hinaus! Dann wendet er sich um und brüllt den Hausherrn an: Sie sind mir zu reich, Sie gottloser Materialist! Jean-Jacques stürzt hinaus. Im Hause Holbach wird er nie mehr gesehen. Schon vor ein paar Jahren fand er es beleidigend, dass Holbach ihm fünfzig Flaschen Bordeaux spendiert hatte, als er sich eine Zeitlang kaum noch Brot kaufen konnte.
Auch Voltaire muss endlich einmal die Meinung gesagt werden, und zwar schon deshalb, weil Jean-Jacques beschlossen hat, nach Genf zurückzugehen und sich wieder zum Calvinismus zu bekehren. Voltaire, der von seinem Schloss auf Genf hinabschaut, soll wissen, mit wem er es bald zu tun haben wird. Erst kürzlich hat er, nach dem Erdbeben von Lissabon, ein philosophisches Geschrei angestimmt und behauptet, Gott könne kein guter Mann sein, wenn er es zulasse, dass eine ganze Stadt in Trümmern versinkt. Doch schlimm ist nicht Gott und auch nicht die Natur, erklärt Jean-Jacques ihm jetzt in einem öffentlichen Brief, sondern nur solche Leute, die Häuser mit sieben Stockwerken bauen und die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht ernst nehmen. Hätten diese Portugiesen in einfachen Hütten gelebt, hätten sie sofort wegrennen können, und das Erdbeben wäre nichts als eine kleine Abwechslung in ihrem Leben gewesen. Weil sie aber aus ihren Häusern auch noch ihr Geld und Gut retten wollten, mussten sie doppelt bestraft werden. An ihrem Untergang sind sie selbst schuld, und ihr Tod ist ihr eigenes Werk, denn sie haben sich der Natur entfremdet. Weder kann Gott etwas dafür noch seine Schöpfung, schließt Jean-Jacques seinen Brief und fügt hinzu: Im Übrigen verstehe ich nicht, dass ausgerechnet Sie, ein vom Leben in jeder Hinsicht Begünstigter, über den Gang der Welt klagt, während ich, ein armer Hund und in jeder Hinsicht vom Leben Benachteiligter, das Leben rühme.
Voltaire schreibt zurück: Mein lieber Philosoph, leider ist meine Nichte, die bei mir weilt, sehr krank, und ich selbst bin auch leider krank, weshalb es mir unmöglich ist, Ihren so schönen Brief gebührend zu beantworten. Ich habe gehört, dass Sie
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