Wintzenried: Roman (German Edition)
dagegen. Zwar hatte er sich nachts, mit dem Ohr an der Wand, immer ausgemalt, wie es sein würde, wenn er an der Stelle des Gärtners wäre. Jetzt aber, wo er gar keine andere Wahl mehr hat, würde er alles dafür geben, dass es bloß bei solchen Vorstellungen bleibt. Am schönsten ist es, wenn er sie nur hört und sich dabei selbst befleckt.
Andererseits macht einen diese ständige Selbstbefleckung krank. So krank, dass man irgendwann daran stirbt. Was wiederum dafür spricht, dass er es ab jetzt mit Mama macht.
Dann ist es zum ersten Mal so weit. Damit es geht, stellt er sich dabei andere Frauen vor, seine bisherigen Schülerinnen und solche aus Turin, vor denen er einst niedergekniet ist. Danach sinkt er tagelang in eine Traurigkeit ab, wie er sie noch nie erlebt hat.
II
E r ist überzeugt, bald sterben zu müssen. Immer wieder.
Mama hat nichts dagegen, dass er ab und zu krank ist, aber zu oft erträgt sie es auch nicht, zumal der Doktor behauptet, dass sich nicht das Geringste feststellen lässt. Kein Fieber, keine Ausschläge, rein gar nichts. Geld verdient ist mit Herumliegen sowieso keines, und die Zuwendungen des Königs und der Kirche werden immer spärlicher, als hätte man vergessen, was die Konvertierte aus Vevey alles für sie getan hat. Doch die Tage in Evian sind lange her.
Auch der Gärtner lebt nicht mehr. Wegen einer Lungenentzündung, die er sich im tiefsten Schnee und im bloßen Hemd auf den Bergen geholt hat, auf der Suche nach Beifuß, den es dort oben Anfang März überhaupt nicht gibt. Keuchend kam er zurück, hochrot im Gesicht, fünf Tage später war er tot. Dass Jean-Jacques laut zu denken gewagt hat, es sehe nach Selbstmord aus, fand Mama ungeheuerlich. Beifuß im März, das ist wie Erdbeeren an Heiligabend, hatte er gespottet, anstatt einfach den Mund zu halten. Dabei war es ein Jahr zuvor schon einmal fast so weit gewesen. Ganz gelb im Gesicht, starrte der Gärtner mit glühenden Augen so entsetzlich ins Leere, dass Mama ihn eine halbe Stunde lang schüttelte, nur noch heulte und zitterte, aber auch nicht den Doktor zu holen wagte. Hilf mir, hilf mir, schrie sie Jean-Jacques immer wieder an, doch er wusste auch nicht, was man tun sollte. Schließlich konnte er selbst am allerwenigsten dafür, dass die beiden sich in ihrer Hexenküche ständig stinkende Tinkturen zusammenbrauten und mit ihrem Leben spielten.
Bei der Beerdigung trug er den schwarzen Anzug des Toten, was Mama unerhört fand. Doch dann überließ sie ihm auch seine Uhr und alle anderen Überbleibsel. Und jetzt ist sie schon seit Monaten mit ihrem Kleinen allein. Seit er keine Gesangsstunden mehr gibt, sitzt Jean-Jacques bloß noch zu Hause herum. Was Mama auch nicht gefällt. Und dass er so viel im Bett liegt, gefällt ihr noch weniger. Nur kann er ja nichts dafür, dass er krank ist und der Doktor nichts bei ihm finden kann. Das Drücken in der Brust, die Atemnot, die Beklemmungen, die viele Übelkeit erfindet er schließlich nicht. Es könnte Schwindsucht sein oder noch Schlimmeres. Jean-Jacques muss sich die Diagnosen selbst stellen, wenn der Doktor versagt und dann jedes Mal zu ihm sagt, er habe wieder viel dazugelernt, so viel wüssten nicht einmal seine klugen Bücher. Jean-Jacques weiß es trotzdem besser. Nur würde er nie verraten, woran es wirklich liegt. Und trotzdem kann er das Onanieren nicht lassen.
Immer wenn es ihm wieder besser geht, zieht es ihn in die Welt hinaus. Manchmal wochenlang. So lange, bis er sich nach Mama zurücksehnt und wieder weiß, dass er ohne sie nicht leben kann. Das eine Mal muss er nach Nyon, um nochmals seinen Vater zu besuchen, das andere Mal nach Lyon, um sich ein Stück von Voltaire anzusehen, dann wieder nach Genf, um letzte Erbschaftsfragen zu regeln. Anlässe gibt es genug, doch so gut wie nie kommt er dort an, wo er eigentlich hinwollte. Manchmal gibt er sich auf seinen Reisen als Diplomat, manchmal als Engländer, manchmal als Komponist aus. Nie kommt jemand auf die Idee, dass es nicht stimmen könnte, vor allem die Damen nicht. Eine von ihnen wollte ihn sogar auf ihren Landsitz nach Montélimar einladen. Eine ganze Woche lang hatte er die Nächte mit ihr verbracht. In Montélimar lebe sie mit ihrer Tochter zusammen, einem Kind in seinem Alter, erzählte sie. Seither vergeht kein Tag, an dem Jean-Jacques sich nicht ausmalt, wie es mit dieser Tochter oder mit beiden zusammen wäre. Ohne auch nur das geringste Bild von ihr zu besitzen, verspürt er manchmal eine solche
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