Wintzenried: Roman (German Edition)
wird er wieder freigelassen.
Auf einmal ist Mama wieder da. Als er ihr um den Hals fallen will, fragt sie nur, warum er nicht in Lyon sei.
Er steht da, weiß nicht, was er sagen soll, wirft sich auf die Liege, klammert sich am Kissen fest und fängt an zu schluchzen. Schluchzen hat bisher immer geholfen, so sehr sogar, dass er sich fragt, ob zuerst das Schluchzen kommt und dann erst das Gefühl. Was keineswegs heißen muss, dass ein Gefühl weniger Gefühl ist, wenn es nur durch Schluchzen zustande kommt. Schließlich gibt es zum Schluchzen allen Grund.
Als das Schluchzen allmählich keinen rechten Aufschwung mehr nehmen will und wie nicht mehr ganz natürlich klingt, fragt er Mama mit halb erstickter, halb herrischer Stimme, wo sie war. Mama redet etwas von geheimer Mission, der Name des Bischofs fällt, und auch der des Königs. Mehr dürfe sie nicht sagen.
Am Abend sitzen alle wieder um den Tisch, Mama, der Gärtner und er. Man werde umziehen müssen, gibt Mama bekannt. Der Thronfolger in Turin habe ihren Aufgabenbereich erweitert. Gleichzeitig müsse der Haushalt verkleinert werden. Mehr, sagt sie nochmals, dürfe sie nicht sagen.
Jean-Jacques kennt das. Mama belässt es gern beim Ungefähren. Sie ist wie gemacht für solche geheimnisvollen Geschichten. Fürs Undurchdringliche, bei dem keiner weiß, welche Rolle sie eigentlich spielt. Kein Wunder, denkt er, dass sie sich zu den Katholischen hingezogen fühlt. Dass der Franziskanerprior zu den Trappisten verschleppt worden und der Organist mit Schaum vor dem Mund auf der Straße zusammengebrochen ist, passt auch dazu.
Eine knappe Tagesreise südlich von Annecy hat Mama ein Haus zugewiesen bekommen, kaum halb so groß wie das bisherige. Im hintersten Winkel einer Seitengasse. Dunkel und mit einem Modergeruch, bei dem man um die Gesundheit fürchten muss. Die Ausweitung von Mamas Aufgabenbereich geht ganz offensichtlich mit einer Verschlechterung ihrer Verhältnisse einher. Der Gärtner legt als Erstes einen Kräutergarten an. Jean-Jacques hat einen Koffer voller Bücher mitgebracht.
Bald finden hin und wieder auch kleine Hauskonzerte statt. Alle paar Wochen klopfen abends drei, vier Musikanten an die Tür, und wenn sie lange genug sitzen, ist es wieder ein bisschen wie in Annecy. Allerdings muss Jean-Jacques jetzt jeden Morgen früh aufstehen. Mama will, dass er auf dem Katasteramt Geld verdient. Dort streicht er in speckigen Registrierbänden Zahlen und Ziffern aus und ersetzt sie durch andere. Zehn Stunden am Tag, die ganze Woche lang.
Nach zwei Monaten wird er krank. So krank, dass er sterben zu müssen glaubt. Wochenlang kann er das Bett nicht mehr verlassen, obwohl der Doktor keine Krankheit feststellen kann. Doch jedes Mal, wenn er aufzustehen versucht, wird ihm schwindlig. Das Einzige, was Jean-Jacques hat, ist noch ein wenig Kraft, um Voltaire zu lesen.
Wieder halbwegs genesen, schreitet er mit seinem Stock so aufrecht, wie es nur geht, durch die Gassen zum Katasteramt, wo er seinen Vorgesetzten zu sprechen wünscht und ihm kurzerhand erklärt: Ich komme nicht mehr!
Danach schlägt er den Weg zur Musikschule ein, wo man ihn von den Hauskonzerten bei Mama längst kennt. Dass er in Lausanne schon ein Konzert mit eigenen Werken dirigiert hat, wissen hier alle. Und dass er in Annecy ein gefragter Musiklehrer war, auch. Also drückt man ihm ein paar Adressen junger Mädchen in die Hand, die singen lernen wollen. Ab sofort muss er jeden Morgen bei einer anderen zu Hause erscheinen.
Die eine begrüßt ihn jedes Mal im Nachthemd, bei einer anderen kommt immer die Mutter auf ihn zugerannt und küsst ihn vor ihrem eigenen Mann so schamlos auf den Mund, dass er gar nicht mehr weiß, wo er hinschauen, geschweige denn, was er sagen soll. Die Dritte starrt ihn während der ganzen Gesangsstunden nur an, so inständig, dass Jean-Jacques den Unterricht mit ihr bloß im Dasitzen und Schweigen verbringt.
Als er Mama erzählt, was sich in diesen Häusern abspielt, verstummt sie. So stumm wie an diesem Tag hat er sie noch nie erlebt. Sie sitzen im Garten, der Brunnen plätschert, der Gärtner kommt mit einem Korb voller Pilze aus dem Wald zurück. Schöner könnte das Leben nicht sein, in solchem Frieden, solcher Stille. Nur dass Mama auf einmal sagt: Entweder sie oder ich. Überleg es dir, acht Tage hast du Zeit!
Wie oft hätte er alles darum gegeben, nicht bloß ihr Kleiner, sondern noch viel mehr zu sein. Doch jetzt, wo es so weit ist, sträubt sich in ihm alles
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