Wintzenried: Roman (German Edition)
Gier nach ihr, dass er am liebsten auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und nach Montélimar eilen würde. Für die Mutter, stellt er sich vor, bräche vielleicht die Welt zusammen, würde sie ihn mit ihrer Tochter erwischen. Oder sie wollte sofort mitmachen, und sie drei würden ihre Tage mit fast nichts anderem mehr verbringen.
Mama kann er nicht erzählen, was er unterwegs alles erlebt. Aus Angst, sie könnte seine Tagebücher lesen, denkt er sich manchmal Geheimschriften aus, die dann aber immer zu kompliziert sind, wenn man in aller Schnelle etwas aufschreiben will. Deshalb entscheidet er sich für unsichtbare Tinte. In Genf hatte ihm einmal jemand erzählt, man müsse dafür nur Kalk mit Wasser und Arsen in eine Flasche füllen, sie gut verschließen und kräftig schütteln. Doch gleich bei seinem ersten Versuch fängt das Gebräu derart heftig an zu schäumen, dass die Flasche fast explodiert und ihm nichts anderes übrigbleibt, als sie augenblicklich wieder aufzumachen, wobei ihm das ganze Gemisch ins Gesicht spritzt und er sechs Wochen lang blind ist, zumindest seinem Gefühl nach. Vom ständigen Herzrasen gar nicht zu reden.
Halbwegs genesen, aber nach wie vor sehr schwach, fleht er Mama an, mit ihm aufs Land zu ziehen. Dort würden sie frische, fette Milch trinken können und wären immer gesund. Warum sollten sie noch in diesem finsteren Loch bleiben und sich nichts Schöneres suchen, nachdem er keinen Gesangsunterricht mehr gibt und auch kein Franziskanerprior und Domorganist mehr in ihrem Haus verkehren? Da Mama aber fürchtet, dann vollends ihre Rente zu verlieren, beschließen sie, das finstere Loch beizubehalten und sich dazu noch ein Gartenhäuschen im Freien zu mieten. In einem kleinen Tal finden sie auch bald eines, versteckt hinter Bäumen, auf halber Höhe eines Hügels, von dem aus man über Wiesen, Obstgärten und Weinstöcke blickt.
Hier möchte ich sterben, flüstert er Mama ins Ohr, als sie dort ihre erste Nacht verbringen.
Doch so gut die Luft auch ist und so herrlich die Natur blüht, so wenig verträgt Jean-Jacques die frische, fette Milch. Trinkt er nur einen Schluck von ihr, wird ihm sofort schlecht, manchmal so sehr, dass er wieder zu sterben meint. Er versucht es mit klarem Bergwasser, womit er sich aber nach zwei Wochen vollkommen den Magen ruiniert hat, weil das Wasser, wie er inzwischen weiß, viel zu hart ist. Er kann nichts mehr verdauen und sieht sich inmitten dieser ländlichen Fülle und Pracht schon aufs jämmerlichste verenden. In seinen Adern pocht es so laut, dass er glaubt, es müssten sogar andere hören. Es klirrt und surrt in seinem Kopf, als könnte er jeden Augenblick zerspringen. Auch sein sonst so feines Gehör sieht er bereits im Schwinden begriffen und ist sich sicher, bald ganz taub zu sein, was für einen angehenden Komponisten eine Katastrophe wäre. Sein Ohrensausen ist kaum noch auszuhalten, und ein regelrechter Sturm im Blut lässt ihn keinerlei Ruhe mehr finden, am wenigsten nachts, wenn die sonst so paradiesische Stille zur Hölle wird.
Man ruft den Doktor, dem Jean-Jacques, noch bevor er seine Geräte ausgepackt hat, die komplette Diagnose liefert, dabei jedoch wie immer die eigentlichen Ursachen verschweigt. Der Doktor hört es sich an, sagt dann etwas Lateinisches vor sich hin und verschreibt eine Medizin. Doch es will sich nichts ändern, wochenlang nicht. Bis der Patient eines Morgens einfach aufsteht und die Tage wie früher verbringt, obwohl das Tosen in den Ohren immer noch da ist, das Blut in den Adern immer noch pocht und es im Kopf nach wie vor surrt und klirrt. Weil ihm auf dem Land nicht zu helfen ist, bleibt den beiden nichts anderes übrig, als wieder in die Stadt zurückzuziehen, wo es weder fette Milch noch viel zu hartes Bergwasser gibt.
Kaum im finsteren Loch zurück, stürzt Jean-Jacques die Treppe hinab und ist überzeugt davon, dass sein Schädel gebrochen ist. Der Doktor verabreicht ihm eine Augenbinde, um nicht so vielen Reizen ausgesetzt zu sein. In den zahllosen stillen Stunden, die er erneut blind im Bett verbringt, lässt ihn allmählich der Gedanke nicht mehr los, dies alles könnte die Strafe dafür sein, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben ist, wofür er jetzt büßen muss.
Er lässt den Notar kommen, dem er mit verbundenen Augen sein Testament diktiert. Im Namen der Allerheiligsten Jungfrau, seiner Namenspatrone Johannes und Jakobus und im Namen der heiligen Apostolischen Römischen Kirche
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