Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
gerade er an dem besagten Abend nicht dabei gewesen war. Die anderen konnten sich ihm später anvertraut, und er hinterher versucht haben, zu helfen, Schadensbegrenzung zu betreiben. Schließlich war er ein Geistlicher, aus reinem tiefem Herzen gut und selbstlos, fürsorglich bedacht um das Seelenheil seiner Schäflein. Anke hatte keine Ahnung, warum sie unvermittelt dieses Gefühl durchjagte, es müsse jemand gewesen sein, der bisher nicht erwähnt wurde, den aber alle aus der Clique kannten und für den viel auf dem Spiel stand. Der damals, wie auch heute noch geschützt werden musste, aus welchen Gründen auch immer. Familie, Frau, Kinder, Beruf. Jetzt vielleicht ein hohes Tier, Bürgermeister, Abgeordneter, „ach herrje“, stöhnte sie. Gut, auch Elene ist zu der Zeit abgeschirmt und gedeckt worden, aber heute spielte das keine Rolle mehr. Sie war tot. Ankes Gedanken sprangen zu Lennart. Betrank sich ein Pastor? Aber wenn er dabei gewesen war und Dreck am Stecken hatte, würde das ein Skandal sein, ein triftiger Grund, Leonie von der Suche nach ihrem Vater abzuhalten. Aber ein Geistlicher, Anke rechnete zurück, und das musste er auch damals bereits gewesen sein, lebt im Zölibat, aber dennoch, der Geist ist schwach, das Fleisch ist stark. Es gab genug Priesterkinder. Vor Jahren hatte sie darüber einen Bericht für ein populäres Magazin geschrieben. Urplötzlich hielt sie für einige Sekunden die Luft an. Der Gedanke schoss ihr wie ein Blitz in den Kopf. War es möglich? Konnte es sein? „Puuuuh“, blies sie aus. Sollte überdies jemand durch einen Mord geschützt werden? Musste Herbert Rosskamp womöglich sein Leben lassen, weil er den wahren Vater preisgeben wollte? Der komplette Schwindel unweigerlich aufgeflogen wäre? Vielleicht sogar Vaterschaftstests der anderen anstanden, um zu klären, wer derjenige welche war? „Ich verzettle mich“, stöhnte sie. Johannes jedenfalls war nicht der Mörder. Sein Alibi ist von der Kripo geprüft worden und wasserdicht.
Ihre Gedanken schwirrten wie aufgescheuchte Vögel. In der nächsten Sekunde drückte sie das Bremspedal durch. Die Reifen quietschten. Die Ampel war zwar auf Rot umgeschlagen, aber sie hatte angenommen, der Wagen vor ihr würde noch die Kreuzung passieren, stattdessen leuchteten grell wie eine Drohung seine Bremslichter auf. Der Adrenalinschub folgte unmittelbar. Kaum hatte sie sich erholt, kreuzten ihre Gedanken erneut um Lennart. Irgendwann kam sie zu dem Schluss, ihn erst einmal außen vor zu lassen. Ein Geistlicher und ein Mörder. Das konnte sie sich nur schwer vorstellen. Auch wenn alles möglich war. Der neben ihr haltende Rechtsabbieger grinste sie durch die Scheiben an, versuchte eindeutig, mit ihr zu flirten. Was so ein Porsche alles bewirkte. Die Idee, dass sie selbst attraktiv war und noch lange kein Alteisen, drang nicht bis in ihr Bewusstsein. Sie dachte mehr, ob es Wolf auch so ging, wenn er unterwegs war? Im Geiste sah sie, wie die Mädels ihm scharenweise zulächelten, wenn er, gut und ausdrucksstark hinter dem Steuer seines Porsche saß. Ein Eifersuchtsgefühl überfiel sie. „Lächerlich“, schnaufte sie. Die Ampel sprang um. Sie warf dem Typ in seinem Kleinwagen einen kalten Blick zu und gab Gas.
Vor ihrem Appartement war direkt hinter ihrem geparkten VW Cabrio eine Lücke frei. Aber nicht groß genug, um von vorne einzuparken, wie Anke es bevorzugte. Sie quälte sich ab, korrekt von hinten den Wagen in die Lücke zu manövrieren, gab schließlich auf und ließ ihn schräg in der Parklücke stehen. Sie würde eh nicht lange brauchen, umziehen, Koffer packen und ab ins Ahrtal. Als sie die Treppen hochstieg, war sie abermals in ihren Gedanken versunken. War der Mord an Rosskamp nur rein zufällig mit den anderen Geschehnissen zusammengetroffen und hatte er andere Hintergründe, nichts Familiäres, wie sie anfänglich geglaubt hatte? Das kam für sie eher infrage, als einen Geistlichen zu verdächtigen.
Oben in ihrer Wohnung entledigte sie sich zuerst ihres Jeansrocks, stieg in eine weiße Leinenhose, streifte ein rotes Top über und begann, ihre kleine Reisetasche zu packen. Der Wetterbericht hatte sonnige Tage angekündigt, trotzdem fand ein dicker Pullover seinen Platz zwischen den Sommersachen. Die Türglocke dongte. Doch wohl nicht wieder Leonie? Anke musste sich überraschen lassen, denn die Sprechanlage war noch immer defekt. Mit halbem Ohr hörte sie aus der Wohnung durch die geöffnete Tür in Flur, bis die Schritte
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