Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Helga Heise gewechselt hatte, bevor sie sich davonmachen konnte.
Nach der Bestattung hatte sie auf der Terrasse, die am Nachmittag wegen der Beisetzung geschlossen war, ein Essen servieren lassen. Onkel Lennart hatte sie des Öfteren in den Arm genommen und gedrückt, obwohl sie in keiner Weise signalisierte, dass sie dieses gebraucht hätte. Aber es war anscheinend eine priesterliche Geste, derer Onkel Lennart sich nicht erwehren konnte. Ihr fiel auf, dass er sich allerdings mit Johannes kaum ausgetauscht hatte. Eine Weile grübelte sie darüber nach, ob irgendein Grund dafür ersichtlich war, aber sie fand keinen. Früher als sie erwartete hatte, war Onkel Lennart zurück nach Trier gefahren.
Noch immer betrübt und nachdenklich lenkte Leon ie den Smart zwischen den Wanderern hindurch. Das schöne Wetter hatte sie hinaufgelockt. Sicherlich würden auch die Terrassen gut besucht sein. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr. In dem Fall würde sie mit anpacken müssen. Das in einem eigenwilligen Stil gebaute Haus sowie die Terrassen waren von Beginn an ein immenser Anziehungspunkt gewesen, doch nach dem Mord schien es sich fast in einen Wallfahrtsort zu wandeln. Die Aura des Verbrechens übt eine außergewöhnliche Faszination auf die Menschen aus, wunderte sich Leonie. Vater hätte so etwas als gut für’s Geschäft bezeichnet. Langsamer als üblich stieg sie die Treppe vom Parkplatz zu den Terrassen hoch. Nach drei Stufen verharrte sie einige Minuten. Ein eigentümliches Erwartungsgefühl, eine Art Erregtheit hatte sie plötzlich ergriffen. Sie hoffte mit klopfendem Herzen auf Thomas Broll, dachte an Münchs Ausspruch heute Morgen. Eilig stieg sie weiter. Oben ließ sie ihren Blick kreisen. Für einige Sekunden beneidete sie die Unbeschwertheit der vielen Gäste, die lachten, Wein tranken, in Unterhaltungen vertieft waren oder sich einfach nur über die Terrassen hinaus in die Wälder und Weinberge träumten. Leonie schritt auf den Restauranteingang zu und blieb inmitten der Terrasse abrupt stehen. Im Türrahmen erschien Thomas Broll. Er ist frei, schoss es durch ihren Kopf, ohne Kaution. Morgen hätte sie das in Angriff nehmen wollen. Frei, das bedeutete, sie sahen ihn als unschuldig an. Frau Schneider musste zurück sein und bestätigt haben, dass er zur Tatzeit daheim angekommen und sein Wagen durchgängig über die infrage kommende Zeit auf seinem Stellplatz gestanden hatte. Thomas hielt bei ihrem Anblick inne, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und eilte auf sie zu. „Leonie, ich wollte gerade zu dir in den Pfaffenberg. “ Und im nächsten Moment umarmte er sie und drückte sie ohne Hemmungen vor allen Anwesenden wie ein stürmischer Liebhaber fest an sich. Obwohl sie seine Anwesenheit in ihrem vor Minuten auf der Treppe erlebtem Gefühl erahnt hatte, war sie dennoch überrascht. Beinahe überwältigt, dass sie seine Umarmung erst geschehen ließ, ihn dann aber etwas von sich schob, sein ›After Shave‹ von Hugo Boss noch in der Nase. Er roch gut, war frisch rasiert, trug ein hellgelbes Hemd, eine schwarze Hose, kombiniert mit einem hellgrauen Leinenjackett. Die paar Tage Haft hatten seinem sonnengebräunten Teint nichts anhaben können. Und zum ersten Mal sah Leonie bewusst, was er war, ein überaus attraktiver, charmanter Mann mit einer Herzlichkeit und warmen Augen, die sie als Kind bereits fasziniert hatten. Ihr Herz zuckte einen Moment unruhig. Thomas legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie ins Haus. Leonie drängte gleich auf der anderen Seite wieder zur Tür hinaus. „ Lass uns rüber gehen in die Wohnung“, presste sie hervor. „Ich möchte aus der Arbeitskleidung raus.“
Sie war irritiert über sich selbst und über seine frenetische Umarmung. Wahrscheinlich hatte er sich über die Freude seiner Haftentlassung nicht ganz unter Kontrolle gehabt. Diese überschwängliche Begrüßung kam ihr jetzt absonderlich vor. Er führte sich um ein Haar auf, als wären sie schon lange ein Liebespaar. Dabei hatte ihr Herz bisher nur leise Signale gesendet. Auf jeden Fall bedeutete er ihr etwas, das wollte sie nicht leugnen. Er war ihr wichtig als Freund, als Mitarbeiter. Ihr kam es vor, als hätte sie nur Blasen im Kopf, so blubberte es darin. Sie konnte nicht differenzieren, ob der Zustand zwischen ihren Ohren vor Freude oder vor Unbehagen hervorgerufen worden war. Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten? Unterschwellig ging sie innerlich auf Abstand. Mit zittrigen Händen öffnete sie die
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