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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sausen, aber Hans war schneller. Er hatte bereits die Tür zugeschlagen. So hart war der Schlag, dass die Rückenwirbel auseinanderbrachen, als der weiße Stock die grün lackierte Holzfläche traf. Die Schar von Jungen brach in wildes Gelächter aus. Dann rannten sie davon, während sie aufs Neue ihr «Der Kannibale ist los! Der Kannibale ist los!» brüllten.

    Nach einer Weile kehrten sie zurück und sammelten die Überreste des Stocks ein, die Herman liegen gelassen hatte. Wieso sie ihn den Kannibalen nannten, wusste niemand. Die Jungen hatten ihre eigenen Gründe. Bestimmt fürchteten sie sich vor ihm, also taten sie, was Jungen immer tun, wenn sie Angst haben: Sie gingen nah heran, zeigten mit dem Finger darauf, gaben ihm einen Spitznamen und betäubten ihre Furcht, indem sie zusammen aus vollem Halse lachten. Die Reste des Rückgrats bewahrten sie in Dosen und Schachteln auf, aus denen sie genommen wurden, um geheimen Ritualen zu dienen. Oder die Jungen verwendeten sie, um ihre Verstecke in den hohlen Pappeln zu verzieren, die die Landstraße außerhalb der Stadt begrenzten.
     
    Eine ganze Woche lang spendierte Herman jeden Tag in Webers Café eine Runde, um seinen neuen Status als vermögender Mann zu feiern. Er hatte aufgedunsene Wangen und einen herausfordernden, kampfeslustigen Blick. Die ganze Zeit taxierte er uns, als wollte er uns einen folgenschweren Treueid abfordern, bei dem wir uns entweder seinen Launen zu unterwerfen oder die Konsequenzen zu tragen hatten. Wie diese Konsequenzen aussahen, konnten wir uns gut vorstellen, wenn wir einen Blick auf seine großen Hände warfen, die er die ganze Zeit nervös zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Sie schienen etwas zu vermissen, das sie packen und zerschmettern konnten. Er war seit damals noch größer geworden. Die Schultern wirkten breiter, er hatte beachtliche Oberarme und einen Brustkorb wie die Frontpartie eines Lastwagens, aber auch einen ziemlichen Wanst. Trotz seiner Jugend war er auf dem besten Weg, fett zu werden.
    Wir fragten ihn, ob er von Speck-Larsen und Pfannkuchen-Nielsen verpflegt worden sei. Das waren die Orte, an denen wir unser Labskaus oder Bratkartoffeln mit Speck zu uns nahmen, wenn wir in Kopenhagen loszogen, um anzumustern.
    «Ich bin Besseres gewohnt», erwiderte Herman.
    Auf dem rechten Arm hatte er sich von Tusch-Hans in Nyhavn einen großen Löwen tätowieren lassen, der sich in Angriffsposition duckte. Auf einem Banner darüber standen die Worte «Smart and Poverfull».
    Herman spendierte noch eine Runde.
    «Zum Teufel noch mal, ihr werdet schon sehen», sagte er.

    «Jetzt werdet ihr’s sehen!»
    Etwas in seinem Tonfall erinnerte uns daran, dass wir möglicherweise das Gleiche zu sehen bekommen sollten, wie es Jepsen damals sah, als er irgendwo zwischen Marstal und Rudkøbing über Bord ging oder sprang – beziehungsweise als dabei nachgeholfen wurde.
     
    Herman schien weit herumgekommen zu sein, wie wir alle, aber er war an einem Ort gewesen, den wir nicht kannten. Es war die Kopenhagener Börse, und er, der ewig misslaunig blickende Bursche, dessen mürrische Art möglicherweise ein Verbrechen kaschierte, blühte nun in einer fremdartigen Beredsamkeit auf, die uns ebenso verdächtig vorkam wie einige Jahre zuvor die Umstände des Todes seines Stiefvaters.
    Wir wussten schon, was die Börse war, nämlich ein Ort, an dem sich nur Reiche und Leute, die mit Zahlen umgehen konnten, aufhielten, an dem alles in Geld umgerechnet werden konnte und dieses sich ganz von selbst vermehrte oder weniger wurde, an dem Menschen als Sieger hineingingen und in der nächsten Stunde als Verlierer herauskamen, an dem das Leben in ein und derselben Sekunde himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt sein konnte. Ja, das verstanden wir. Dass auch wir den Gesetzen unterlagen, die das Geld steuerten, wussten wir, denn eine Frachtrate berechnete sich nicht nur nach dem Gewicht der Fracht und den Seemeilen, sondern richtete sich auch nach Angebot und Nachfrage. Und wussten wir es nicht, so wussten es zumindest Madsen, Boye, Kroman, Grube und die übrigen Schiffsmakler und Reeder aus Marstal. Doch von den Gesetzen, die dieses ganze Tohuwabohu lenkten, verstanden wir nichts, und jeder von uns wusste, dass er größere Chancen hatte, einen Taifun lebend zu überstehen, als aus der Kopenhagener Börse mit gefüllten Taschen zu spazieren. Herman schien die Hälfte der Jahre, die er von uns fort war, in diesem Mahlstrom aus Geld und Wertpapieren

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