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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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den Krieg, sondern auch für den Untergang der Stadt: der Profit. Es waren die hohen Preise, die diesen Zustand geschaffen hatten, die hohen Heuern, die Frachten, die sich verzehnfacht hatten, die Schiffspreise. Die Reeder, die genügend Verantwortungsgefühl besaßen, um ihre Schiffe im Hafen liegen zu lassen, mussten zusehen, wie die Mannschaften sich andere Heuern suchten. Sie wollten hinaus, hinaus, um am Fest des Krieges teilzunehmen.
     
    Und dann verkauften wir die Schiffe. Denn welchen Nutzen hatten sie, wenn sie hier lagen, zumal sie zum drei- bis vierfachen Wert verkauft
werden konnten? Die Bausumme hatte sich schon in einem Jahr amortisiert; es waren also nicht nur alte, ausgediente Schiffe, die verkauft wurden, sondern auch Schiffe, die frisch vom Stapel gelaufen waren. Alle sprachen wir in frommen Reden über diesen fürchterlichen Krieg und beteuerten, dass es der letzte sein müsse. Und fürchterlich war der Krieg für die Millionen, die auf den Schlachtfeldern fielen. Aber wir, die wir nichts damit zu tun hatten, zogen unseren Vorteil daraus.
    Dänemark trat nicht in den Krieg ein und blieb neutral. Aber glaubten wir wirklich, dass wir verschont würden, nur weil auf die Bordwand eine Dannebrogflagge gemalt war? Ein Seemann muss eine gewisse Furchtlosigkeit besitzen. Doch dies war keine Furchtlosigkeit, sondern Gedankenlosigkeit. Marstal lag inmitten einer Kriegszone. Das Festland hatte seine Fronten, aber das Meer wahrlich auch, und die Hälfte aller Seeleute der Stadt befand sich täglich an einer davon.
    Was trieb uns? War die Aussicht auf Profit der Herzschlag dieses Krieges? War es die Gier, die Albert nun unverhüllt sah, auch bei Leuten, die er zu kennen glaubte? War er bloß alt geworden und hatte sich etwas Entscheidendes verändert, oder war es schon immer so gewesen, und er hatte es nur nicht erkannt?
    Albert fühlte sich plötzlich lächerlich. Hier war er herumgelaufen und halb wahnsinnig geworden wegen ein paar Träumen, die ein so grauenvolles Wissen offenbarten, dass er es nicht wagte, sie anderen mitzuteilen. Und wenn er nun erzählt hätte, was er wusste? Hätten wir ihn nicht einfach ausgelacht, wäre es uns nicht egal gewesen, selbst wenn wir an der Wahrheit seiner Geschichten nicht gezweifelt hätten?
    Sterben? Ja, vielleicht.
    Der und der, ein Steuermann, ein Matrose, ein Kapitän. Wir würden auf die anderen zeigen. Aber nicht auf uns. Die Gier ließ uns glauben, dass wir unsterblich seien. Dachten wir an den morgigen Tag? An unseren eigenen vielleicht, nicht an den der anderen.
    Kapitän Levinsen hatte damals Einwände, als die Mole gebaut werden sollte.
    «Man hat allein für sich selbst und nicht für die Nachwelt zu sorgen», hatte er gesagt. Die ganze Stadt hatte sich seither bemüht, diese Worte Lügen zu strafen.

    Nun wählten wir ausgerechnet den kurzsichtigen Levinsen zu unserem Vorbild.

    Als Herman nach Hause zurückkehrte, hielt er einen Stock aus weißen Knochen in der Hand. Er war aus den Rückenwirbeln eines Hais gefertigt, und Herman war nicht der Erste, der aus Ostindien oder dem Stillen Ozean mit einem derartigen Knochen heimkehrte. Aber er war der Erste, der damit in den Straßen spazieren ging, als wäre es ein Zepter und er selbst ein König. Er ließ den Stock durch die Luft wirbeln, wenn er mit bedeutungsvoller Miene alte Bekannte grüßte.
    Mit dem Haifischrückgrat klopfte er auch an die Tür seines Vormunds Hans Jepsen, wobei eine Schar von Jungen respektvoll Abstand hielt und sein Klopfen mit taktfesten Rufen begleitete: «Der Kannibale ist los! Der Kannibale ist los!»
    Als Hans die Tür öffnete, hielt ihm Herman sein Seefahrtsbuch unter die Nase. Er war jetzt ein voll befahrener Matrose und wollte beweisen, dass ihm Respekt gebührte. Er grüßte Hans nicht einmal. Er nannte lediglich sein Alter: fünfundzwanzig Jahre. Er stieß die Zahl aus, als wäre es in Wahrheit die Faust, die er gern seinem Vormund mitten ins Gesicht gerammt hätte. Es war Hans Jepsens Absetzung, die er ankündigte. Herman war jetzt mündig und konnte als offizieller Eigner der Tvende Søstre und des Hauses in der Skippergade auftreten.
    Hans Jepsen machte den Eindruck, als ob er überhaupt nicht zuhörte. Er starrte auf den weißen Stock, mit dem Herman herumfuchtelte.
    «Ich sehe, du hast dich auf einen Fresswettbewerb mit den Haien eingelassen», sagte er. «Und du hast gewonnen. Ärgerlich, dass es nicht anders ausgegangen ist.»
    Herman ließ den Stock durch die Luft

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