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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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alten Knochen vor dem Winter ein letztes Mal wärmten. Ein unruhiger Ruck ging durch die Gruppe. Sie waren seine Gesellschaft nicht gewohnt.
    «Ja, die guten Zeiten sind jetzt vorbei», sagte er und verbarg den Sarkasmus in seiner Stimme nicht. Wieder zuckten sie zusammen.
    «Vierhundertsiebenundvierzig dänische Seeleute sind tot», erklärte er. Er hatte seine Zahlen im Kopf.
    «Davon dreiundfünfzig aus Marstal. Das heißt, so gut wie jeder neunte Ertrunkene kam hier aus der Stadt.»
    Er machte eine Pause, damit sie diese Tatsache verdauen konnten. Dann fuhr er mit seiner Arithmetik fort.
    «Obwohl die Anzahl der Einwohner von Marstal nur ein Tausendstel der Gesamtbevölkerung des Landes beträgt. Und was lehrt uns diese Rechnung, meine Herren? Dass das Ergebnis gute Zeiten heißt?»
    Er stand von der Bank auf und grüßte mit einem Finger an seinem Strohhut.
    Sie sahen ihm nach, als er den Stock schwang und zur Havnegade hinaufschlenderte. Doch, Albert konnte gut rechnen.
    «Dreiundfünfzig Tote», dachte Albert, als er die Havnegade entlangging. «Vielleicht bin ich ungerecht. Eine Stadt vergisst schnell. Eine Mutter, ein Bruder, eine Frau oder eine Tochter nicht. Aber eine Stadt schon. Eine Stadt schaut nach vorn.»

     
    Ingenieur Henckel kam noch immer nach Marstal. Groß und breit schritt er mit hellen, hinter ihm herflatternden Frackschößen durch die Kirkestræde zum Hotel Ærø, in dem stets ein Zimmer für ihn bereit stand. Seine Aufenthalte wurden mit großartigen Champagnergelagen für Investoren und andere Interessierte gefeiert, von denen es immer eine Menge gab. Herman hatte nicht nur die Tvende Søstre, sondern auch das Haus in der Skippergade verkauft.
    Er war nun ohne festen Wohnsitz und logierte im Hotel Ærø, wo rasch eine hohe Rechnung auflief, die er nicht bezahlen konnte, da er sein gesamtes Vermögen in Ingenieur Henckels Projekte investiert hatte. Aber das hätte gar nichts zu bedeuten, meinte Orla Egeskov, der Hotelbesitzer, der ihm und dem Ingenieur gern Kredit gab. Egeskov war selbst Investor und wusste, dass er alles zehnfach zurückbekommen würde. Jede Champagnerflasche war ein Wechsel auf die Zukunft, und Herman trank nur Champagner.
    Henckel hatte am Ende der Reeperbahn Wohnungen für die Werftarbeiter bauen lassen, dort, wo einst der Idiot Anders Nørre seinen Schuppen hatte. Es war ein beeindruckendes Haus mit zwei Treppenhäusern, acht Wohnungen und einem Mansardendach.
    Es hatte nichts von den kleinlichen Proportionen der Stadt. Das war kein Haus, das sich in engen Straßen versteckte, als ob es Schutz vor dem Wind suchte. Es stand im freien Gelände, mit Luft nach allen Seiten und der Aussicht auf die Ostsee, so als wollte der Ingenieur den Wind und die See gleichzeitig herausfordern. Nach der Schule in der Vestergade und dem stattlichen Posthaus in der Havnegade mit seinem Granitfundament und den geschwungenen Girlanden als Zementrelief unter jedem Fenster war Henckels Arbeiterwohnhaus das größte Gebäude, das je in Marstal errichtet worden war. Hier sollten gewöhnliche Menschen übereinander wohnen, ohne Innenhof oder eine eigene Tür zur Straße.
    «Sie sind das Arbeitsheer», erklärte Henckel begeistert. «Das ist erst der Anfang. Es kommt der Tag, an dem wir den ganzen alten Mist niederreißen, damit der Platz sinnvoll genutzt werden kann.»
    Neben den Schiffswerften in Marstal, Korsør und Kalundborg gehörte ihm auch eine Ziegelei.
    «Ich habe genügend Backsteine für ein ganz neues Marstal, wenn es sein muss. Ihr braucht es nur zu sagen.»

    Und dann gab er mit rot gesprenkelten Augen und großen Schweißflecken auf dem Hemd eine Runde an der Bar des Hotel Ærø aus, und wir stießen auf die neue, ungestüm vorandrängende Zeit an. Wir hatten uns an den Champagner gewöhnt. Die Bläschen stiegen zur Oberfläche auf und zerplatzten mit einem kleinen Blubb, das die Lippen kitzelte. Und die Bläschen wollten kein Ende nehmen, ebenso wenig wie die Ideen des Ingenieurs.
    Herman stieß ebenfalls an. Er lief nicht mehr mit aufgekrempelten Ärmeln herum, sondern trug stattdessen Manschettenknöpfe an seinem Hemd. Wir alle hatten von den zwei Rechtschreibfehlern in seiner Tätowierung gehört.
    Marstal bekam eine Bank. Vorher hatten wir nur eine Sparkasse. Es war die Handels- und Kreditbank aus Svendborg, die in Marstal einzog. Mit seiner große Fassade hinaus zur Prinsegade lag das Gebäude gegenüber von Alberts Maklerkontor und war noch größer als die Schule, das

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