Wir Ertrunkenen
Entschlossenheit. Sie fasste ihn unter den Arm wie ein Kind, das vor lauter Angst, in der Menschenmenge verloren zu gehen, die Hand seines Vaters sucht. Er hatte es bereits geahnt, als sie in Korsør den Zug bestiegen. Sie trug den Kopf hoch, als sie den Fuß auf das Trittbrett setzte, und doch durchfuhr sie ein Beben, geradezu ein Schreck, den zu beherrschen sie außerstande war. Steif saß sie ihm im Abteil gegenüber und vermied es, aus dem Fenster zu sehen. Erst nach Slagelse erwachte sie aus ihrer hypnotischen Starre und fing an, die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten – sie musste sofort die Augen schließen. Sie hatte nie etwas anderes gesehen als die flachen Wiesen Birkholms. Für sie war Marstal die Stadt, aber eine Stadt, die mit dem Markt, der Kirche und der Hauptstraße bequem unter der Deckenwölbung des Hauptbahnhofs Platz gefunden hätte, wo der Lärm der unzähligen Reisenden sich in einem großen brüllenden Echo sammelte.
Er ging mit ihr direkt zur Börse. Er wählte absichtlich einen Zeitpunkt am späten Nachmittag, an dem die Tageskurse feststanden und in dem großen Vestibül der grobe Zirkus begonnen hatte, der sich Nachbörse
nannte. Seine Absicht war es ganz einfach, sie abzuschrecken. Er entdeckte in sich einen Beschützerinstinkt, den er, hätte er sich über seine eigene Psychologie Gedanken gemacht, uneigennützig genannt hätte. Es gab keinen Grund, dass man ihr das Geld abschwatzte, so wie man es ihm abgeschwatzt hatte. Und wollte sie mit ihm nicht über die vagen Pläne sprechen, die sie offensichtlich mit großer Entschlossenheit auszuführen bereit war, so konnte er zumindest sich selbst als Spielball der abschreckenden Mächte anführen.
In der Mitte des Vestibüls war mit Hilfe von Pfosten und Seilen ein Platz eingefriedet, der an einen Boxring erinnerte. Hier standen die Effektenhändler und schrien ihre Angebote hinaus.
Vom anderen Ende des Vestibüls kam ein Mann mit einem eigentümlich schaukelnden Gang auf sie zu. Die Menge wich ihm aus, um nicht mit ihm zu kollidieren. Er glich ganz und gar einem Seemann, der versucht, bei Sturm auf einem Schiff das Gleichgewicht zu halten; seine Kollegen, die niemals auf einem Schiffsdeck gestanden hatten, nannten ihn deshalb «Der Rollende Fußweg».
Er lüpfte den Bowlerhut, als er Herman erblickte. Sie waren alte Bekannte. Herman erwiderte seinen Gruß mit einem Lächeln, und sofort ging der Mann auf sie zu.
«Ajax Hammerfeldt», sagte er und nahm galant Klaras Hand, auf der er mit spitzen Lippen einen Kuss platzierte.
Bei der ungewohnten Begrüßung zuckte sie zusammen. Dann schlug sie den Blick nieder, wurde rot und vergaß vollkommen, sich vorzustellen.
Herman tat es für sie und fügte hinzu: «Frau Friis hat gerade ein größeres Vermögen geerbt. Sie braucht einen guten Rat.»
«Dann sind Sie bei mir an dem Richtigen, liebe Frau Friis», sagte der Rollende Fußweg und hob noch einmal den Hut, als würden sie sich erst jetzt wirklich kennenlernen. Er warf einen raschen Blick auf Herman, um sich zu vergewissern, dass er für das nun Folgende sein Einverständnis hatte.
Herman stand reglos da, und der andere fasste es als Zustimmung auf.
«Ja, die Schiffsindustrie ist stark auf dem Vormarsch», sagte er. «Haben gnädige Frau schon von den schornsteinlosen Schiffen gehört?»
Klara schüttelte beeindruckt den Kopf.
«Der Dampfer ist der Nachfolger des Segelschiffs. Doch das schornsteinlose
Schiff ist der Nachfolger des Dampfers. Das ist die Zukunft, und Sie haben die Möglichkeit, zu den Ersten zu gehören, die ihr Geld darin investieren. Sie sind jung …»
Er warf ihr einen einschmeichelnden Blick zu und fügte in einem Ton hinzu, der andeutete, dass er nun sein entscheidendes Argument anführte: «… und der Jugend gehört die Zukunft.»
Herman sah von einem zum andern. Er konnte nicht anders, als den Rollenden Fußweg zu bewundern. Der verstand sein Metier, auch wenn dieses der Betrug war, diese durchtriebene Mischung aus Wahrheit und Lüge. Das schornsteinlose Schiff! Es klang wie ein geschickter Kniff, entsprach jedoch der Wahrheit. Einige Jahre zuvor war das dieselbetriebene Motorschiff Selandia auf der B & W-Werft vom Stapel gelaufen und ohne Zweifel der Nachfolger des Dampfers. Er wartete nur darauf, dass der Rollende Fußweg fortfuhr. Erst die Wahrheit, dann die Lügen.
«Die Kalundborger Werft», erklärte der Rollende Fußweg, «hier werden die Schiffe der Zukunft zu Wasser gelassen. Die Aktien sind
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