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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wertvoll der Kopf war. Im Übrigen hielt er die Kopfjagd keineswegs für barbarisch. ‹Ich habe in eurer Bibel gelesen›, sagte er zu mir. ‹Da gibt es David, einen großen Krieger. Als er Goliath besiegt hat, schnitt er ihm da nicht auch den Kopf ab und zeigte ihn König Saul?›»
     
    Kurz darauf kroch ich unter Deck. Ich fiel in der engen Koje mit ihrer stickigen Luft schon bald in einen unruhigen Schlaf und träumte von Isagers brennendem Haus, damals in der Silvesternacht vor vielen Jahren. Ich stand auf der Straße und schaute in ein Fenster. Im Esszimmer lag Isagers Kopf auf dem Tisch und starrte mich an.
    Ich hörte Stimmengemurmel und das Geräusch nackter Füße an Deck, aber ich wusste nicht, ob es sich nicht um einen neuen Traum handelte, der den vorherigen abgelöst hatte.
    Ich erwachte mit einem Druck auf der Brust und versuchte, die Träume aus dem Kopf zu verbannen. Dann schwang ich die Beine aus der Koje. Das Schiff ächzte, die Wellen rauschten. Es war nicht mehr windstill. Ich beschloss, an Deck zu gehen, um mir die frische Brise ins Gesicht wehen zu lassen. Die Tür der Kajüte war geschlossen, obwohl kein
Zweifel daran bestand, dass ich sie hatte offen stehen lassen, als ich in die Koje ging. Ich fasste an den Griff, doch die Tür war von außen verschlossen.
    Es gab etwas, das ich nicht sehen durfte, und ich glaubte zu wissen, was es war.
    Ich hämmerte an die Tür und rief Jack Lewis’ Namen, doch es kam keinerlei Reaktion. Aufbrechen konnte ich sie nicht, und nach einiger Zeit gab ich es auf und kehrte in meine Koje zurück, wo ich zu meiner Überraschung wieder einschlief.
    Als ich wach wurde, fiel Licht durch die offene Tür. Ich fand Jack Lewis bei einer Tasse Kaffee in seiner Kajüte. Er sah aus, als hätte er mich erwartet, und lächelte breit, als ich durch die Tür trat.
    «Kaffee?», fragte er und wies auf den Stuhl gegenüber.
    Ich antwortete nicht.
    «Wollen wir nun wieder damit anfangen? Mit unseren sokratischen Dialogen über das Wesen des Gewissens? Glaub mir, alles, was ich tue, dient nur dazu, dein vornehmes Gewissen zu schützen.»
    «Ein Gewissen, das nicht gebraucht wird, ist kein Gewissen.»
    «So philosophisch sind wir schon am frühen Morgen? Es gibt nichts, das einen Mann so nachdenklich werden lässt wie eine verschlossene Tür. Siehst du, wenn du nicht dieses vornehme Gewissen hättest, wäre deine Tür auch nicht abgeschlossen. Aber du bist herzlich willkommen, die Nacht an Deck zu genießen. Du musst nur immer daran denken, dass ich dein Kapitän bin und mein Wort hier an Bord Gesetz ist.»
    «Also doch Sklavenhandel? Die Flying Scud ist ein blackbirder?»
    «Es ist absolut kein Sklavenhandel. An Bord der Flying Scud gibt es nur freie Männer.»
    «Die tagsüber im Laderaum eingesperrt sind?»
    «Sie können das Schiff verlassen, wann immer sie wollen. Ich wünsche nur nicht, dass sie inmitten des Ozeans über Bord springen. Dann ertrinken sie. Es gibt kein Land in der Nähe, selbst der beste Schwimmer könnte nichts erreichen. Aber die Kanaken sind abergläubisch, in der Dunkelheit wagen sie nicht herumzuschwimmen. Daher sind sie nachts an Deck sicher.»
    Ich verstand überhaupt nichts.
    «Das Schiff verlassen, wann sie wollen?»

    Meine Stimme war voller Zorn und Misstrauen. Ich spürte, dass Jack Lewis mich zum Narren hielt.
    «Ja. Sobald wir Land erreichen, können sie das Schiff als freie Männer verlassen.»
    Er stand auf und streckte mit die Hand hin.
    «Ich gebe dir mein Wort als Kapitän der Flying Scud.»
    Ich blieb stehen, ohne seine ausgestreckte Hand zu ergreifen.
    «Wenn es freie Männer sind, aus welchem Grund sind sie dann an Bord? Denn einen Grund wird es doch geben?»
    «Es gibt bei allen Dingen einen Grund.»
    «Deinen oder ihren?»
    Ich sah auf den Schrank mit den Winchestergewehren hinter seinem Rücken und wusste, dass er nicht zu antworten brauchte.
     
    An diesem Abend blieb ich am Ruder stehen, als er an Deck kam, um mich abzulösen.
    «Ich übernehme die Wachen noch ein paar Stunden», sagte ich.
    «Wie du willst.»
    Im Mondschein sah seine undurchdringliche Miene mehr denn je aus wie eine Holzmaske.
    Die erste Stunde passierte nichts. Die Kanaken der Besatzung schliefen um mich herum auf Deck, denn wieder war es eine warme Nacht. Dann machte Jack Lewis die Runde und weckte sie. Sie kamen ohne Zögern auf die Beine, obwohl es mitten in der Nacht und der Mondschein die einzige Lichtquelle war. Ich sah, dass es sich um Routine handelte.

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