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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Sie verschwanden in der Kajüte und kehrten mit Wasserkrügen und Schalen mit gekochtem Reis zurück, die sie aufs Deck stellten. Dann begannen sie, die Luken zu öffnen. Ein schwarzes Loch tat sich vor mir an Deck auf, und ich überlegte, ob nun all meine Fragen beantwortet würden. Jetzt sollte ich die freien Männer zu sehen bekommen, die tagsüber im Laderaum eingeschlossen waren.
    Einer der Kanaken rief etwas in den Laderaum, und ein Chor von Stimmen antwortete. Einer nach dem anderen kam herauf. Ich versuchte, sie zu zählen, doch in der Dunkelheit fiel es mir schwer. Ich weiß nicht, wie viele es waren, aber ich glaube, es waren ausschließlich Männer. Ihre Haut war schwarz wie eine mondlose Nacht. Ihre Gesichter
verbarg der Schatten einer dichten Haarpracht. Im Mondlicht ähnelten sie Negern aus Afrika, doch ich wusste, dass es Melanesier aus dem östlichen Teil des Stillen Ozeans sein mussten, die dunkelste all der Rassen, die über dieses gewaltige Meer verteilt leben. Bei den Weißen waren sie nicht nur als die blutrünstigsten, sondern auch als die eifrigsten aller Kopfjäger berüchtigt.
    Jetzt bewegten sie sich friedlich auf Deck, wo sich schon bald ein Leben entfaltete, wie man es vermutlich in jedem Dorf dieser Wilden finden kann. Einige scharten sich um die Schalen mit Reis. Andere tranken aus den Wasserkrügen oder gossen sich das Wasser in die hohlen Handflächen, um sich das Gesicht zu waschen. Ein paar gingen an die Reling, um sich zu erleichtern. Bald saßen sie alle in kleinen Gruppen an Deck, und ein monotones Gemurmel breitete sich aus.
    Einer begann zu singen, andere stimmten ein, und es dauerte nicht lange, bis sie alle sangen. Ihr Gesang schien den Stillen Ozean als Partitur zu haben. Er hob und senkte sich mit einer gemächlichen Würde, genau wie die gewaltige Dünung des Ozeans, und wie bei den Wellen schien es, als hätte ihr Gesang weder Anfang noch Ende. Er hörte ebenso abrupt auf, wie er begonnen hatte, ohne einen erkennbaren Anlass, und Schweigen senkte sich wieder über das Deck, während sich die Flying Scud auf ein Ziel zubewegte, das nur Jack Lewis kannte.
    Ich sah mich nach ihm um. Er lehnte mit einer Winchester im Arm am Deckhaus.
     
    Die Szene wiederholte sich jeden Abend. Die Luken wurden geöffnet, und die schwarzen Schatten, die unter der Bezeichnung «freie Männer» lebten, krochen an Deck und befriedigten ihre täglichen Bedürfnisse. Dann verschwanden sie wieder. Ich wusste nicht, welches Schicksal unseren freien Männern bestimmt war. Allerdings konnte ich mir kaum vorstellen, dass sie etwas Gutes erwartete. Dafür hatte Jack Lewis mich schon zu weit in seine Philosophie eingeweiht.
    Wieso stritt er so vehement ab, dass es sich um Sklaven handelte? Ein Heuchler war er doch nicht. Das musste ich ihm zugestehen. Was also mochte der Grund sein?
    «Ich sag es dir noch mal, Madsen, ich sage dir, es sind keine Sklaven und auch keine Plantagenarbeiter. Es sind freie Männer wie du und ich.»

    Er sagte es eines Tages, als ich einmal mehr nachgebohrt hatte. Dann gab ich es auf, weiter in ihn zu dringen.
     
    Einige Tage später wandte er sich an mich. Ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass er eine Überraschung vorbereitet hatte.
    «Es kann nicht schaden, wenn ich es dir jetzt verrate, Madsen», sagte er. «Wir segeln nach Samoa. Dort ist dein Vater.»
    «Dann weiß ich es jetzt», entgegnete ich.
    Ich muss gestehen, dass ich nicht das Bedürfnis verspürte, ihm zu danken.
    «Was sollte uns daran hindern, uns zu trennen? Jetzt gibt es nichts mehr, das uns noch länger aneinanderbindet.»
    Er lachte und breitete die Arme zu einer Umarmung aus.
    «Aber natürlich gibt’s da noch etwas, mein lieber Junge. Sieh dich um. Das Meer! Das Meer bindet uns zusammen. Wie willst du auf eigene Faust nach Samoa kommen? Schwimmen? Unterwegs auf einer dieser einsamen Inseln aussteigen, die auf keiner Seekarte verzeichnet sind, und auf eine Schiffspassage warten? Nein, du bist an das Schiff hier gebunden. Genau wie die freien Männer im Laderaum.»
    Jack Lewis hatte recht. Dass ich nun wusste, wo mein Vater sich befand – ein Wissen, für das ich fürchtete, teuer bezahlen zu müssen, wenn ich es überhaupt je nutzen konnte –, änderte gar nichts.
    «Wir unterbrechen unsere Reise noch einmal», fuhr Jack Lewis in dem gleichen triumphierenden Ton wie zuvor fort. «Aber ich bin sicher, dass du nicht das Bedürfnis verspüren wirst, mich verlassen zu wollen.»
    «Und wieso nicht?»,

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