Wir fangen gerade erst an: Roman (German Edition)
die Aufseherin. Solche Menschen gab es. Eigentlich sollte der erste Freigang in Örebro stattfinden, aber Märtha hatte gebettelt, dass sie nach Stockholm durfte. Sie hatte etwas von Altersschwäche erzählt und gejammert, dass ihr immerzu schwindelig werde und sie das Gleichgewicht kaum halten könne. Nun wollte sie zum letzten Mal in ihrem Leben das Schloss sehen.
»Und vom Grand Hotel sieht man es am allerbesten«, sagte sie, als sie die Norrbrücke erreicht hatten.
»Zuerst müssen wir Ihre Angelegenheiten bei der Krankenkasse regeln und das Haus Diamant aufsuchen«, sagte der Pferdeschwanz.
»Aber meine Liebe, das Schloss ist so schön«, bettelte Märtha und redete auf ihre Begleiterin ein, bis sie ihren Willen bekam. Es dauerte lange, bis sie vor Ort waren, denn Märtha tat sehr gebrechlich. Sie wollte natürlich nicht zeigen, wie gut sie in Schuss war. Aber während sie da gingen, machte sie sich ernsthaft Sorgen um das Geld im Fallrohr. Wenn nun Anna-Gretas Stumpfhosen schon zu alt gewesen waren oder Kratze an seinem Knoten etwas falsch gemacht hatte? Die Unruhe stieg, und am liebsten wäre Märtha sofort in die Prinzessin-Lilian-Suite gestürmt. Sie drehte sich zum Pferdeschwanz um.
»Als ich im Grand Hotel gewohnt habe, habe ich das goldene Armband meiner Mutter verloren. Ich möchte mich an der Rezeption gern erkundigen, ob sie es gefunden haben«, sagte sie und steuerte den Rollator in Richtung des Hotels.
»Jetzt? Dafür haben wir keine Zeit«, antwortete der Pferdeschwanz.
»Aber das Hotel hat einen Extra-Aufzug an der Straße, das heißt, ich bin ganz schnell an der Rezeption. Es dauert nicht lange. Ich verspreche es.«
Die zwei Wachen sahen sich an und nickten.
»Okay, dann gehen wir dort vorbei.«
Märtha atmete auf, und kurz darauf schob sie ihren Rollator wieder über den wohlbekannten blauen Teppich mit den Goldkronen. Sicher, es war peinlich, als Kriminelle zurückzukommen, doch das musste sie aushalten. An der Rezeption erklärte sie ihr Anliegen.
»Es wäre wunderbar, wenn Sie das Armband gefunden hätten«, beendete sie ihre kleine Geschichte.
»Ihren Namen, bitte.«
»Märtha Anderson.«
Märtha lief rot an, sie wusste ja, dass sie ihren echten Namen angeben musste, um in die Suite zu kommen.
»Märtha Anderson, jawohl. Sie wohnten hier im März dieses Jahres, nicht wahr?«
»Ende März, ja.«
»Märtha Anderson, hier haben wir Sie.« Die junge Frau klickte auf ihrer Tastatur und überflog die Listen auf dem Bildschirm. »Sie haben sich die Suite zu dritt geteilt.«
Märtha nickte.
»Nein, bei uns wurde leider kein Armband abgegeben, tut mir leid.«
»Aber ich glaube, ich weiß, wo es liegt. Es dauert nicht lange, es …«
»Tut mir leid.« Die junge Frau machte eine abweisende Handbewegung. »Die Suite ist belegt.« Ihre Stimme klang plötzlich barsch und distanziert. »Und außerdem«, fuhr sie fort, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. »Haben wir leider kein anderes Zimmer frei. Für Sie nicht.«
Märtha erstarrte. Die Dame hatte begriffen, wer sie war, aber das war noch lange kein Grund, unhöflich zu sein. Dann fiel ihr ein, dass sie die Suite ja verlassen hatten, ohne zu bezahlen, und das Hotel hatte sich gezwungen gesehen, die Summe von Anna-Gretas Karte einzuziehen. Aber Märtha wollte nicht nachgeben.
»Das Armband gehörte meiner Mutter und bedeutet mir sehr viel. Es ist ein Familienstück.«
Der Pferdeschwanz wirkte etwas verlegen und machte ein Zeichen zum Aufbruch, doch Märtha blieb stur an Ort und Stelle stehen.
»Nein, wir lassen niemanden in die Suite«, wiederholte die junge Frau, dann stockte sie. »Einen Moment, Märtha Anderson, sagten Sie …« Sie verschwand hinter dem Tresen und tauchte mit einem Brief in der Hand wieder auf.
»Der liegt hier schon eine Weile«, sagte sie und überreichte ihn Märtha. »Wir wollten ihn nachsenden, aber jetzt sind Sie uns zuvorgekommen.«
Auf dem Kuvert stand allerdings nicht Märtha Anderson handschriftlich wie bei Snilles Briefen. Die Adresse war auf ein Etikett gedruckt worden. Märtha riss den Umschlag auf, bevor der Pferdeschwanz in der Nähe war. Darin lag ein kleiner Zettel.
Verstecken Sie 100000 SEK in einem Kinderwagen. Stellen Sie ihn am 30. Oktober um 13 Uhr hinter dem Grand Hotel ab. Bleiben Sie fern, und schalten Sie keine Polizei ein. Kommen Sie zwei Stunden später zurück. Unter den Decken und Kissen werden Sie die Bilder finden …
Mehr konnte Märtha nicht lesen, bevor
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