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Wir haben gar kein Auto...

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Titel: Wir haben gar kein Auto... Kostenlos Bücher Online Lesen
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der Beerdigung ihres Mannes kommt. Kaum zu Hause, ruft sie die eingegangenen Nachrichten ab, obwohl sie noch ganz von Trauer und Schmerz überwältigt ist. Ihr Sohn, der kurz darauf nach Hause kommt, entdeckt seine Mutter ohnmächtig vor dem Computer und liest auf dem Bildschirm die E-Mail, die sie geöffnet hat: ›Liebe Gattin, ich bin gut angekommen, alles in Ordnung. Vermutlich wird es dich überraschen, per E-Mail von mir zu hören, aber jetzt haben sie auch hier Computer, und es ist möglich, seinen Lieben Nachrichten zu senden. Kaum angekommen, habe ich mich vergewissert, dass auch für dich alles vorbereitet ist, wenn du nächsten Freitag kommst. Ich sehne mich sehr danach, dich wiederzusehen, und hoffe, dass du wie ich eine ruhige Reise habenwirst. PS: Nimm nur das Nötigste an Kleidung mit, denn hier herrscht eine höllische Hitze.‹«
    Unter lautem Gelächter palavern die fröhlichen Alten weiter und trinken Bier aus der Flasche, ohne sie an den Mund zu setzen. Jutta schaut ihnen amüsiert zu.
    Es ist fast drei Uhr, daher schwingen wir uns erneut aufs Fahrrad und fahren die Waalwege entlang, das sind die alten Bewässerungskanäle. Was gibt es Schöneres, als über diese Abhänge zu radeln, begleitet vom leisen Rauschen des Wassers und dem herrlichen Anblick der endlosen Apfelplantagen? Im Nu erreichen wir Lasa (Laas), das faszinierende, für seinen weißen Marmor berühmte Dörfchen, wo uns ein Freund von Jutta erwartet. Gemeinsam mit ihm besichtigen wir die Bahn, die zur berühmten Mine des »weißen Goldes« hinaufführt. Niemand Geringeres als Großvater Speidel hat sie 1929 gebaut. Noch heute verbindet eine Schwebebahn den Marmorbruch mit dem Werk im Tal.
Auch diesmal möchte ich nicht auf die Erinnerungen und ihre therapeutische Wirkung verzichten. So wird der Besuch einer Marmorbahn, der für Jutta so wichtig und bedeutungsvoll ist, zu einem guten Vorwand, in Erinnerungen zu schwelgen. Wie vielen von Ihnen ist es schon mal passiert, dass Sie beim Sprechen über einen fernen Verwandten unbewusst noch einmal die Phasen Ihres eigenen Lebens durchliefen? Nehmen wir mal an, es stimmt, was ein bekannter deutscher Psychotherapeut behauptet, nämlich dass wir alle, auch ohne uns dessen bewusst zu sein, durch eine Art biologisches Band mit unseren Familienangehörigen verbunden sind (sogar mit jenen, die wir nicht kennen und von denen wir nie gehört haben) und dass wir kraft dieses Bandes in manchen Fällen von ihnen »umgarnt« werden und sogar ihr Schicksal annehmen können. All das im Hinterkopf, entdecken wir, dass Juttas Ururgroßvater Gauklerwar und einer meiner Vorfahren auf der Via Claudia Augusta verkehrte!
    Nein, wir beschließen, das Spiel der Erinnerung nicht zu weit zu treiben, indem wir nur über unsere Jugend, unsere Eltern und höchstens noch unsere Großeltern reden. Wir bewegen uns auf gefährlichem Terrain, ich weiß. Auf einem Gebiet voller Nostalgie. Doch die Regeln sind strikt: Wir dürfen nur schöne, strahlende Erinnerungen wählen, uns Freude, Entdeckung, Zufriedenheit ins Gedächtnis rufen. Außerdem Ereignisse, die uns ergriffen, bewegt oder verblüfft haben, sowie jene gesegneten Tage, an denen wir uns – wie heute, während wir auf einer Bank vor einer Apfelplantage sitzen – zutiefst lebendig und auf geheimnisvolle Weise glücklich fühlten.
    Jutta beginnt mit einer Liste, die natürlich nach drei Minuten endlos zu werden droht, weil sie aus unzähligen mikroskopischen Details besteht: »Mein erster Schultag, Papa, der mir das Bruchrechnen und das Radfahren beibringt, ich, die ich den Jasmin lutsche und dabei die ganze Hecke ruiniere, ich, die ich mir das Knie beim Radfahren an einem Baum aufschlage, weil ich es nicht geschafft habe, rechtzeitig zu bremsen, weil ich den Lockenwickler meiner ersten Puppe in der Hand halte, der Tag, an dem ich mir die Zöpfe abschneide, mein Vater, der auf unserer ersten Reise nach Italien DDT versprüht, um die Stechmücken zu töten, mein erstes Dirndl, ich, die ich Spitze tanze, das Schönste, was ich je auf Erden gesehen habe: zwei Surfer mit einem türkisfarbenen VW-Bus, mein erster Hund, der mit mir unter einer Decke schläft, meine Großmutter, die mich Yoga lehrt und wie wichtig es ist, sich die Ellbogen mit Wachs zu massieren, ich, die ich aus den Ferien zurückkomme und mit dem Akzent all

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