Wir haben keine Angst
Bille hatte Geburtstag und depressive Panikschübe, weil sie dreißig wurde. Sie hatte Stress bei der Arbeit und fühlte sich insgesamt mies. Bastian musste einspringen. Sie machten eine große Tour, morgens um halb sechs saßen sie komplett besoffen auf der Parkbank, Bastian rekrutierte eine Gruppe von abgefeierten Passanten, die mit ihm zusammen Happy Birthday für Bille sangen.
Die Zen-Gruppe wartete um acht Uhr am Hauptbahnhof vergeblich auf ihren vielversprechendsten Schüler. Bastian knickte das Kloster und damit die ganze Meditiergeschichte. Das Streichholz namens Buddhismus war so schnell abgebrannt, wie Bastian es angezündet hatte.
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Wir alle haben tierische Angst vor Sonntagen. Denn der Sonntag hat eine geheime Koalition mit all unseren Angst- und Psychomonstern geschlossen. An diesem Tag kriechen früher oder später all unsere Dämonen aus ihren Löchern hervor und tun sich zusammen. Sie ballen sich, transformieren sich, bis sie zu einer großen Frage gewachsen sind, die dann bei uns auf der Matte steht und eine Antwort will.
Meistens ist es am späten Sonntagnachmittag oder am frühen Abend so weit. Dann klopft sie an unsere Tür. Die Sinnfrage stampft herein, ungefragt trampelt sie mitten in den Raum. Es ist ihr völlig egal, bei was sie uns gerade gestört hat. Sie öffnet die Tür zu unserem Kopfkino, fläzt sich dort bequem in den erstbesten Sessel – und bleibt sitzen.
Fiese Fragen sind wir ja eigentlich schon lange gewohnt. Wir tragen sie in Form unseres Ohrwurms schließlich ständig mit uns herum. Aber nur am Sonntag verstummen alle Nebengeräusche. Und dann gibt es kein Entkommen mehr. Die Gedanken stürmen gnadenlos auf uns ein. Sogar Ironie hilft uns dann nicht mehr. Bevor wir uns recht versehen, haben die eifrigen kleinen Soldaten der Meta-Ebene in unserer Seelenlandschaft überall schon so dicht an dicht ihre Fragezeichenfahnen aufgespießt, dass sogar unsere altbewährte spöttische Distanz zu unserem Ich nicht mehr möglich ist. Und damit auch nicht zum Abgrund, den wir aus dem Augenwinkel ja eigentlich die ganze Zeit schon näherrücken sehen.
Erst am Sonntag schauen wir direkt in ihn hinein. Denn dann bekommen wir alle schockartig und gnadenlos endlich einmal das, was wir angeblich die ganze Zeit wirklich wollen: Zeit, um runterzukommen. Zeit, uns zu entspannen. Zeit, uns im Spiegel anzuschauen. Zeit, nur für uns selber.
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Bastian ist um vier Uhr am Nachmittag aufgestanden. Wenn er unter der Woche an die Uni geht, schafft er es manchmal auch schon um zwölf, aber gestern war er unterwegs, feiern. Einmal durch alle Bars um die Ecke, wie immer mit Bille und Max, einem Kumpel von der Uni. Sie haben ständig Leute getroffen, wieder verloren und neue kennengelernt. Die White Russians vom Schluss kriegt Bastian zwar nicht mehr ganz zusammengerechnet. Aber es war echt witzig am Ende, so viel weiß er noch.
Bastian sitzt in der Küche auf dem abgeranzten gemütlichen schwarzen Ledersessel vom Flohmarkt unter seinem Bart-Simpson-Poster. Seine Wuschelfrisur ist noch wirrer als sonst. Bastian trinkt Espresso, raucht, isst ein paar Gummibärchen, die er sich heute Morgen noch an der Tanke geholt hat. Sein Kühlschrank ist mal wieder leer. Bastian schlendert durch seine Wohnung. Er hat nichts an, außer seiner Batman-Unterhose. Ein Geschenk von Bille zum dreißigsten Geburtstag. »Vielleicht lernst du damit ja endlich fliegen«, hatte Bille gesagt und gelacht. Bille ist echt in Ordnung, denkt Bastian. Er legt im Wohnzimmer Johnny Cash auf. Er macht sich einen Toast, findet ein letztes Stück Wurst, die leere kreisrunde Salamipackung wandert in den fast überquellenden Müll.
Den zweiten Toast isst er mit Senf. Das geht immer. Draußen wird es fast schon wieder dunkel. Die grauen Wolken hängen tief. Johnny Cash singt übers Folsom Prison. Der Toast schmeckt geil. »My name is Sue! How do you do?«, singt Bastian mit und kichert allein in seiner Küche.
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Anna ist um neun Uhr zum Workout gegangen. Sie hat sich sowohl vorgestern, nach dem pseudo-freiwilligen Friday-After-Work-Bier in der Agentur, als auch bei dem langweiligen Umtrunk zu einer Galerieeröffnung von der Frau eines Kollegen lieber früh verabschiedet und dazu entschlossen, ganz früh aufzustehen, statt an diesem Wochenende loszuziehen. Sie hat heute Morgen die Yoga-Matte in den Schrank geräumt und ist ins Fitnessstudio gegangen. Eigentlich war sie viel zu müde, aber dieses Schwabbelgefühl um den Bauch herum konnte sie
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